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Kolumne Knapp überm BoulevardDie Anrufung des IS

Isolde Charim
Kolumne
von Isolde Charim

Der IS bietet die Möglichkeit, den Amoklauf zu einer „politischen Aktion“ zu machen. Damit schafft er es, aus Sinnlosigkeit Mehrwert zu schöpfen.

Der IS übersetzt die Verlorenheit, die Entwurzelung, die psychische Labilität des Einzelnen Foto: steko7 / photocase.de

D ie wiederkehrende Frage dieses Sommers lautet: Amoklauf oder Terroranschlag? Die Frage also: Sind die Horrorszenarien, die diesen Sommer takten, „politische Aktionen“ oder psychische Störungen? Bei einem Amoklauf tötet ein psychisch entgleister Einzelner blindlings und wahllos. Ein politischer Terrorakt hingegen reklamiert für sein Tun, so schrecklich dieses auch sein mag, einen Sinn, ein Ziel und eine Erzählung.

Der sogenannte „Islamische Staat“ streicht dieses „oder“ durch. Er „bietet“ die Möglichkeit, gerade den Amoklauf zu einer „politischen Aktion“ zu machen. Der IS „bietet“ also die Möglichkeit, einzelne Pathologien, private Störungen in sein System einzuordnen.

Wir denken irgendwie immer noch im Prinzip des Heroismus – selbst dort, wo er negative Vorzeichen hat. Also im Prinzip eines exemplarischen Handelns, einer ungewöhnlichen Leistung, die einen Einzelnen zu einem herausragenden Subjekt macht.

Dem IS hingegen ist es gelungen, auch das gegenteilige Prinzip zu verwerten: Er ermöglicht Einzelnen, sich über ihre Defekte, über ihr Versagen, über ihre Verhinderungen mit einem größeren Ganzen kurzzuschließen. Der psychische Defekt ersetzt bei diesen Attentaten eigentlich alles: die politische Motivation, die gefestigte Ideologie, die politische Organisation, das technische, das organisatorische, das physische „Können“.

Der IS übersetzt die Verlorenheit, die Entwurzelung, die psychische Labilität des Einzelnen, die sich in einem sinnlosen Tötungsakt entlädt. Er verwandelt die Entladung in eine „Artikulation“ – als ob sich da etwas äußern würde.

Nicht nur reine Instrumentalisierung

Wie macht der IS das? Kommt er hinterher und reklamiert die Taten für sich? Adoptiert er die Täter nachträglich? Sicher auch. Aber die reine Instrumentalisierung alleine greift zu kurz.

Das, was dem vorausgeht, ist eine Anrufung. Anrufung ist, laut Louis Althusser, der Mechanismus der Subjektbildung. In jeder Institution – in den Familien, in Schulen, Kirchen, am Arbeitsplatz, in den Parteien überall werden die Individuen angerufen. Es ergeht also ein Ruf an sie, ein Appell, der ihnen eine Identität verleiht, der sie zu eindeutigen Subjekten macht.

Diese Anrufung ist nicht einfach ein Satz. Sie funktioniert vielmehr über eine Vielzahl materieller Anordnungen: Der Ruf erreicht den Einzelnen in und durch kollektive Rituale, Gewohnheiten, Versammlungen. Er ist physisch, ja sogar räumlich verankert. Der Ruf wird also über ein institutionelles Ganzes transportiert.

Ruf, der Bedeutung verleiht

Vom IS geht nun genau das aus: eine Anrufung. Ein Ruf, der die Einzelnen mit einer Identität versorgt. Der sie in ein größeres Ganzes einbindet, als dessen Stellvertreter sie sich fühlen können, in dessen Namen sie agieren. Er gibt ihnen eine Position („Soldat“), ein Ziel („Kalifat“) und er liefert ihnen eine „Ordnung“ – also eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen „erlaubt“ und „verboten“. Und die zentrale Bestimmung: Wer sind die Freunde, wer sind die Feinde. Kurzum – der IS liefert den Einzelnen „Bedeutung“ in jeder Hinsicht.

Das Besondere daran ist, dass diese Anrufung scheint’s auch ohne materielle Anordnung funktionieren kann. Er ist das Paradoxon einer archaischen Institution, die auch virtuell funktioniert: eine Long-distance-Anrufung ohne physische Verankerung. Eine entmaterialisierte Anrufung, die nur das Schnittmuster zum Selberbasteln der Identität bereitstellt. Ein Albtraum für jeden Geheimdienst.

Und der IS „ermöglicht“ es pathologisierten Jugendlichen, ihr Verlangen nach Zugehörigkeit durch Morde auszuleben. Damit wird der psychische Defekt zu einer Produktivkraft des IS. Eine Produktivkraft, die reine Destruktion „ermöglicht“.

Die psychopolitische Voraussetzung zu solchen Taten scheint nicht eine gefestigte Ideologie zu sein. Sie morden nicht aus Überzeugung wahllos in der Menge. Es sind vielmehr Leute, die sich selbst als überflüssig erleben, denen ihr Leben sinnlos erscheint, die solche überflüssigen, sinnlosen Gewalttaten begehen. So viel Sinnlosigkeit. Und einzig der IS erwirtschaftet einen Mehrwert daraus.

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4 Kommentare

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  • "Ideologie" und "Terrorismus" - eine zwingenden Monokausalität ?

     

    Dies führt auch zur Frage der allseits suggerierten zwingenden Monokausalität von "Ideologie" und "Terrorismus". Der Berliner Historiker Prof. J. Baberowski verneint dies, denn "die Gewalt ist kein bloßer Reflex der Verhältnisse, in denen Menschen leben. Sie ist eine kulturelle Ressource für jedermann, eine menschliche Möglichkeit, für jeden, überall und zu jeder Zeit." ("Zivilisation der Gewalt. Die kulturellen Ursprünge des Stalinismus", Berlin, 2003). Auch für Umberto Eco bedarf es keines radikal ideologischen Impulses für eine terroristische Mordtat, wenn er über die im Dienste der italienischen Einheit operierenden Terroristen im 19. Jh. schreibt, "daß diese weinseligen Schwärmer nur ein begrenztes Interesse an der Einheit Italiens hatten und es ihnen vielmehr darum ging, schöne Bomben explodieren zu lassen." ("Der Friedhof in Prag")

  • Schluß mit dem medialen Tamtam

     

    Die FAZ ist neulich er naheliegenden Frage nach dem sozialen und massenpsychologischen Kontext solcher Massenmordtaten wie der in Nizza, München usw. nachgegangen: "Heute, da keine Tat zu wahnsinnig und unmenschlich sein könnte, als dass sich nicht am Ende der IS dazu bekennte, fürchten wir, dass es die Taten selbst sind, die neue Taten inspirieren. Man weiß schon seit der Rezeptionsgeschichte des "Jungen Werthers", dass der Selbstmord ansteckend ist. Warum sollte es bei denen, die so viele andere mit in ihren Selbstmord reißen, anders sein?"

     

    Der Werther-Vergleich impliziert die evidente Tatsache, daß es für derartige Taten nicht eines dezidiert ideologisch-missionarischen Motivs bedarf, den Werther und seine Epigonen bekanntlich auch nicht hatten. Die FAZ sieht zu Recht im Nachahmeffekt einen womöglich wichtigeren Impulsgeber und Tatauslöser als irgendeine nebulöse "Indoktrinierung" oder "Radikalisierung": "Schon früher, wenn Leute (meistens junge Männer), die den Tod suchten und möglichst viele Menschen dahin mitnehmen wollten, sich dafür nach den Vorbildern des Kinos oder der Videospiele maskierten, stellte sich die Frage, was zuerst da war."

     

    Daher sollte man alles unterlassen, was die Popularität solcher Massenmörder noch erhöht und sie nicht auch noch permanent in den medialen Lichtkegel stellen. Vielmehr sind in solchen Fällen totale Nachrichtensperre bis zum gerichtsfesten Abschlußbericht der Untersuchungsbehörden, Geheimhaltung der Identität der Täter und ihres Umfeldes als "Secret Défense" usw. geboten, d. h. alles, was einer Heroisierung solcher Atrozitäten und ihrer politischen Sublimierung und damit einer Nachahmung entgegenwirken könnte. Das mediale Tamtam erreicht nur das Gegenteil und produziert Trittbrettfahrer, wie jüngst wieder geschehen. Hier geht das Recht auf Sicherheit vor dem Recht auf Information. Der NSU-Komplex beweist, daß es machbar ist, wenn man nur will...

  • Schön wär's! Wie naiv muss man sein, wenn man Sätze schreiben will wie diesen: "So viel Sinnlosigkeit. Und einzig der IS erwirtschaftet einen Mehrwert daraus" - oder wie "angerufen"?

     

    Das bestehende System zu stabilisieren, koste es, was es wolle, scheint heutzutage erste Bürgerpflicht zu sein, auch unter Philosophinnen und Lehrbeauftragten jeglichen Geschlechts. Ins Chaos etwas Ordnung bringen oder die Ordnung vor dem Chaos schützen – das hat was wirklich Heldenhaftes. Sogar für Frauen wie Isolde Charim oder mich, die eigentlich gar keine Helden werden wollen. Wir beide sind halt auch "Subjekt", wir wollen jemand sein in dieser Welt, für uns und auch für ein paar andere. Ganz ohne eignen Sinn, der sich aus unsrer Wichtigkeit für andere ergibt, würden wir uns total verloren fühlen in unsrer dreifach freien Welt.

     

    Nein, es ist nicht alleine der IS, der profitiert. Es sind die Law-and-Order-Typen, es sind die Literaten und die Volksaufklärer, es sind die Psychologen und die Medienmenschen, es sind sogar Herr und Frau Mustermann, die was zum drüber reden haben am Stammtisch und in ihrer Arbeitspause, wenn der IS mal wieder für sich wirbt mit toten Menschen und Brutalität.

     

    Wir alle haben etwas vom IS. Nur wollen sich's die meisten nicht gern eingestehen. Es "macht" ja auch tatsächlich wenig Sinn, das "Angebot" solcher Idioten anzunehmen aus purer Selbstgerechtigkeit.

     

    Nicht der IS ist es, der etwas "macht". Wir alle machen den IS. Wir alle haben unsere Defekte. Die resultieren schlicht aus dem Zusammenleben. Und je beschwerlicher das Miteinander ist, umso erheblicher sind die Defekte, die uns an unsrem Da-Sein zweifeln und nach Ausgleich durch Profit verlangen lassen. Am Ende steht dann der IS, der uns vor Augen führt, wie weit wir dabei schon gekommen sind.

     

    Und sogar das ist sinnlos, wenn wir es nicht sehen wollen.

  • 2G
    24636 (Profil gelöscht)

    Man muss ja nur mal die Kommentare auf den großen Medienseiten lesen. Wahn... wahnhaftes Denken, Wahnwitz und Chiliasmus allerseiten. Wenn dem die staatliche Lenkung des Gemeinwesens nicht hinterkommt, diesen Zerfallsprozessen, dann wird sich dieses Gemeinwesen selbst nur noch autoritär kontrollieren und steuern lassen. Ich finde es daher spannend (und nahezu irrwitzig) wie die ehemaligen Volksparteien darauf reagieren. Irgendwie weiter so + starker Staat - Migration = Nach mir die Sintflut! Wenn das aber die Leute am Steuer sind, dann kann man es denen auf der Ruderbank schon kaum noch vorwerfen, wenn sie sich dem Lauf der Dinge ergeben.