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Kolumne Knapp überm BoulevardErdoğans Exiltürken

Seine Majestät Recep Tayyip legt fest: Die Türkei ist überall, wo über Erdoğan gesprochen wird. Man nennt das transnationalen Nationalismus.

Macht auf cool, hilft aber nichts: Recep Tayyip Erdoğan Foto: reuters

Recep Tayyip Erdoğans Strategie der Beleidigungssuche, Beleidigungsfindung, Beleidigungsdefinition und Beleidigungsverfolgung ist Teil einer autoritären Politik der neuen Art. Er führt damit genau das fort, was er in seinen Wahlkämpfen bereits vorexerziert hat: einen transnationalen Nationalismus.

Um sich klarzumachen, was das ist, muss man sein Gegenstück ansehen – den postnationalen Transnationalismus. Dieser versucht, die Nation zu überwinden, und ist in diesem Sinne transnational. Wie etwa die EU. In ihrem progressiven Verständnis versucht die EU genau das – über den Nationalstaat hinauszugehen und sich selbst als transnationale, als Politik jenseits des Nationalen zu etablieren.

Aus dieser Perspektive wären dann die Bürger der EU Europäer – oder zumindest auch Europäer, neben ihren sonstigen Identitäten als Deutsche, Österreicher oder Franzosen. Erdoğans Programm hingegen ist nicht nur anderer, es ist vielmehr gegenteiliger Art.

Wenn er einen transnationalen Wahlkampf führt, dann sucht er die Türken, die verstreut in Europa leben, auf, um sie „als Türken“ anzurufen. Und nur als solche. Sie sind für ihn nicht Migranten, die das Land verlassen haben und nun alle möglichen Formen von Hybridisierung, von Mischidentitäten erfahren. Nein – sie sind für ihn ganz einfach Türken. Und ihre migrantische Community, ihre Diaspora, die ist für ihn nichts anderes als ein Außenposten der Türkei.

Was sein transnationaler Nationalismus da vorexerziert, ist eine Entterritorialisierung der Nation: Die Türkei ist nicht mehr an das Staatsgebiet der Türkei gebunden. Türkei ist vielmehr dort, wo Türken sind.

Einschwörung auf das Türkentum

Um das zu bestätigen und zu bekräftigen, inszeniert er gern große Auftritte vor Ort. Auftritte, die weit über politische Wahlkampfveranstaltungen hinausgehen. Es sind Rituale: Rituale der Beschwörung des Türkischseins, der Bekräftigung der türkischen Identität, Rituale der Rückbindung ans Mutterland. Gerade die migrantischen Türken, die Türken, die die Türkei verlassen haben und jetzt anderswo leben, anderswo angekommen sind (oder anzukommen drohen), sollen da auf ihr Türkischsein verpflichtet werden. Es ist dies eine geistige Heimholung der Auswanderer.

Die Türkei ist nicht mehr an das Staatsgebiet der Türkei gebunden. Sie ist vielmehr dort, wo Türken sind

Dazu gehört auch der Paternalismus, mit dem er den Deutschtürken nahelegt, die deutsche Sprache zu erlernen, oder die Österreich-Türken ermahnt, „gute Gäste“ zu sein. Denn er ist der Vater „seiner Türken“. Es ist all dies eine Strategie, um die Migration wieder einzufangen, um das Nomadische zu reterritorialisieren.

Das Spezifische daran ist, dass diese Reterritorialisierung nicht bedeutet, die Deutschtürken mögen tatsächlich, physisch in die Türkei zurückkehren. Er schwört sie vielmehr vor Ort auf ihr Türkentum ein, er reterritorialisiert sie hier: in Deutschland, Österreich oder wo auch immer. Denn sein transnationaler Nationalismus ist so praktisch fürs 21. Jahrhundert: Er erweitert das Territorium der Nation – aber nicht im schmutzigen Sinn der alten Eroberungen, der früheren Gebietszugewinne. Das ist 19. Jahrhundert. (Nicht dass er diese Klaviatur nicht auch bespielen könnte. Etwa wenn er ausländischen Diplomaten ausrichten lässt: „Dies ist nicht ihr Land, dies ist die Türkei.“)

Nein, er erweitert das Territorium, indem er die Türkei transnational definiert: Türkei ist überall dort, wo Türken sind. Und genau da wird auch sein Beleidigungskonzept virulent: Beleidigungen werden – von einem großen Apparat – gesucht und gefunden. Beleidigung wird neu definiert: Dazu wird der Diskurs zweigeteilt – in ein Dafür und ein Dagegen. Türkei ist nun überall dort, wo von Türken gesprochen wird.

Und da ergibt sich sein Hoheitsanspruch ganz von selbst. Denn er ist diese transnationale Türkei. Er verkörpert sie wortwörtlich. Und das bedeutet: Türkei ist nun überall dort, wo von Erdoğan gesprochen wird. Also auch hier. In dieser Kolumne. Deshalb kann dieses Sprechen auch nur einer Logik folgen: dafür oder dagegen. Und so ist es auch mit der Verfolgung der Beleidigung: Auch sie vollstreckt seinen transnationalen Nationalismus.

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10 Kommentare

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  • aha.

    und was unterscheidet Erdogan von Netanyahu?

  • Ich find es gut! Nun reded auch die taz erstmals von Türcken und ist endlich auch mal ein wenig türkisch statt immer nur steif deutsch.

  • 5G
    571 (Profil gelöscht)

    Was hilft?

    Den Mann so massenhaft mit "Beleidigungen" zumüllen, dass selbst Heerscharen von Ermittlern den Überblick verlieren und der Sultan am Ende die Waffen streckt.

  • Merkel mit ihrer "einknick-Politik" richtet europaweit enormen Schaden an und gibt Signale international.

     

    Nur weil Sie TTIP für nötig hält bringt sie nur ein müdes "...ausspionieren unter Freunden, das geht garnicht!" im NSA Skandal fertig.

    Weil Sie die Türkei für die Flüchtlingskrise braucht lässt sie sich von Erdogan missbrauchen um Presse-und Redefreiheit in Deutschland zu beschneiden und legitimiert international die Journalistenvervolgung in der Türkei.

     

    Profiteure dieser Inkompetenz: die Rechten im eigenen Land

  • Interessanter Artikel - Erdogan sieht sein trojanisches Pferd.

  • Das, was Erdoğan gerade tut, ist ziemlich treffend beschrieben in dieser Kolumne, finde ich. Was nun noch fehlt, ist der Hinweis darauf, dass Herr Erdoğan keineswegs der Erfinder des beleidigungsbasierten Aktionismus ist.

     

    Das Konzept ist nicht zwingend an das Konzept der Nation gekoppelt. Es funktioniert auch im religiösen, politischen oder ökonomischen Kontext ganz ausgezeichnet. Untrennbar verbunden ist es lediglich mit einem einzigen Prinzip: der repressiven Repräsentation.

     

    Überall auf dieser Welt fühlen sich einzelne Repräsentanten verpflichtet, im Namen derer, die sie vertreten, Gewalt zumindest anzudrohen, wenn nicht selbst auszuüben oder ausüben zu lassen. Man stelle sich mal eben einen Vormund vor. Der kann im Namen seines Mündels (dessen "Bestes" wollend) kooperativ agieren, aber auch aggressiv. Und zwar in Richtung Münde ebenso, wie in Richtung "Rest"-Gesellschaft. Erdoğan führt beides plastisch vor.

     

    Manche Menschen bilden sich wohl ganz fest ein, sie bräuchten Angst um ungestört zu herrschen. Diese Komponente der Macht lässt sich kaum ein Machthaber nehmen. Ob er sie ganz offen und quasi eigenhändig anwendet (wie Erdoğan), oder eher verdeckt und übertragen (wie "die" EU im Falle Griechenlands), ist eher sekundär.

     

    Schon die Römer haben Rom überall da erkannt, wo es Römer gab. Im Zeitalter der "großen Entdeckungen" hat die katholische Kirche das Prinzip in Asien, Amerika und Afrika erfolgreich praktiziert. Und sogar Peter Struck hat 2002 festgestellt, dass "Deutschlands Freiheit […] am Hindukusch verteidigt [wird]". Von Premier Netanjahu, der "seine" Juden weltweit ausschließlich als Juden und in ihrer Gefährdung anspricht, will ich gar nicht anfangen.

     

    Ich finde also, wenn wir Herrn Erdoğan schon zum Anlass nehmen wollen, sollten wir zugleich über uns selber nachdenken. Ein kleiner Erdoğan steckt nämlich in uns allen. Wir wollen uns nur offenbar nicht gerne von ihm trennen. Vielleicht aus zu viel Angst.

  • Serh geehrte Frau Charim,

     

    die aktuellen Entwicklungen in der Türkei sind sicherlich entsetzlich aber mir letzten Endes persönlich egal (Soweit wir keine Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen müssen).

     

    Schwierig finde ich Ihre Einschätzung der europäischen Nationen im Verhältnis zur EU. Ich bin zunächst nur Deutscher, wobei Deutschland lediglich Mitglied der Europäischen Union ist, was mir zusätzliche Rechten und Pflichten einräumt. Eine Nation wird die EU jedoch weder ersetzen oder überwinden. Da jedoch die verschiedenen EU-Behörden möglicherweise mithilfe verschiedener Medien versuchen, einen enstprechenden Eindruck zu vermitteln, stößt die EU schnell an ihre Grenzen.

  • naja, und herr putin sieht es mit dem russischsein ja auch ganz ähnlich! und der künftige präsident trump mit dem amerikanischsein bestimmt auch! das kann ja lustig werden, wenn alle überall, wo ihre leute gerade sind, wieder ihre claims abstecken wollen und gleich den revolver ziehen, wenn sich ihnen jemand oder etwas in den weg stellt.

  • Hab mich heute morgen gefragt, woher der Erdogan-Apparat von einem Foto auf einer genfer Ausstellung weiß...

     

    ** Ausstellung in Genf

    ** Türkei verlangt Entfernung von Protestfoto

     

    Die türkischen Behörden wollen nicht, dass

    ein Erdogan-kritisches Motiv in einer Genfer

    Fotoausstellung gezeigt wird. Die Stadtver-

    waltung will den Fall prüfen.

    http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/-a-1089249.html

  • schön erklärt und auch wasser auf die mühlen von pegida,afd und npd.

    transnationalismus ist nichts neues,mit genau diesen argumenten ist damals der französische staat gegen dreyfuß vorgegangen,den man ja vorwurf kein franzose zu sein weil er jude war und der deshalb schon als veräter geboren wurde. usw usw

    unsäglicher kommentar,erdogan wendent sich an die migranten und gibt ihnen ein zuhause gefühl,ein gefühl was sie hier nicht kriegen.