Kolumne Ich meld mich: Ab nach Kassel, Pamplona oder Pau
Die Menschen in Barcelona, Venedig oder Mallorca wollen uns Massentouristen nicht mehr. Die Alternative: Wir urlauben jetzt in der Provinz.
S ie wollen uns nicht mehr. Uns? Uns! Wir sind die Pest. Wir? Wir! Wir saufen Kreuzberger Kneipen leer, wir rattern mit Rollkoffern morgens um sieben durch Venedigs Gassen und wir sind der Grund, dass Zweizimmerwohnungen in Barcelona für Normala und Normalo unerschwinglich geworden sind.
Ob wir Wert darauf legen, nicht mit feierwütigen Junggesellenmeuten verwechselt zu werden und uns eher als feinsinnige Kulturelite on the Road verstehen, macht in den Augen der Einheimischen keinen Unterschied. Okay – möglicherweise grölen wir nicht durch die Straßen und pinkeln nicht in Hauseingänge. Aber auch wir sind Eindringlinge. Störer. Besatzer. Wir nehmen Platz weg und machen ihr Leben teurer, lauter und anstrengender.
Und sie haben recht.
So aber hat das Reisen keinen Sinn mehr. Mit Störern will man nicht teilen. Weder Lieblingsplätze, Alltag noch Gedanken. Eindringlinge zockt man vielleicht noch ab. Dann will man sie so schnell wie möglich loswerden.
Aber vielleicht gibt es ja einen Ausweg aus dem Dilemma. Rufen wir einfach eine neue Reisebescheidenheit aus, suchen wir das Besondere im Unspektakulären. Überlassen wir die touristischen Hotspots wieder ihren Bewohnern und gehen dahin, wo BesucherInnen noch willkommen sind: in die mittelgroßen Städte. Ab nach Kassel, Spuren der documenta suchen, wenn sie nicht gerade stattfindet. Auf nach Pamplona, außerhalb der Stierrennen im Juli. Darmstadt protzt mit Jugendstil, Bregenz glänzt mit Bodensee und Kunsthalle. Im sommerlichen Aarhus tobt das Leben am Fluss wie im tiefsten Süden. Und wer kennt schon Pau, Essen oder Krakau genauer? Und wer sagt, dass man nicht nach drei Tagen weiterfahren und sich der ähnlich schönen Nachbarin zuwenden könnte?
Kein Schlangestehen mehr
Kleinere Städte sind übersichtlich, das Leben ist meist entspannter. Fast alle Ziele sind zu Fuß zu erreichen. Zwar findet man keinen heißen Scheiß, keine hochgejazzten Must-dos, vor denen sich endlose Besucherschlangen bilden. Aber man entdeckt vieles, was man sich gern ansieht – auch wenn man manchmal erst danach suchen muss. Auf den Märkten stehen Bewohner und Touristen nebeneinander für Bratwurst oder Fish & Chips an, abends in der Kneipe sitzt man neben dem lokalen Drogeriebesitzer und hört seinen Klagen über den Saustall im Rathaus zu. Menschen sehen einem oft noch in die Augen und grüßen freundlich. Man bewegt sich mitten unter ihnen und vegetiert nicht im Touristenghetto unter seinesgleichen vor sich hin.
Ja, aaaber, höre ich jetzt. Lustig, diese Idee – aber kleinere Städte sind nun mal nicht sexy. Wo bitte finden sich in Koblenz die Leuchtturmprojekte, welches Once-in-a-Lifetime-Event bietet Trondheim und was wären, bitte sehr, die Bigger-than-Life-Sachen in Reims?
Tja. Auch wieder wahr. War ja nur eine Idee.
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