Kolumne German Angst: Wir exotisieren die Falschen
Um die Zukunft Europas vorherzusagen, gucken alle in die USA – vor allem nach der Wahl von Trump. Dabei lohnt ein Blick nach Osten viel mehr.

Amerika ist überall“, schrieb der italienische Schriftsteller Ignazio Silone 1930 in „Fontamara“ im Schweizer Exil. Es ist eine Formel, die zeigt, wie lebhaft Europa die USA imaginiert. Amerika ist überall, darum hat die Wahl Donald Trumps solch tiefe ideologische Gräben gerissen. Wer ist schuld? Wer ist abgehängt? Wer sind wir? Wer sind die anderen? Wo verlaufen die gesellschaftlichen Gräben (Akademiker* vs. Abgehängte, Weiß vs. Schwarz; Mann vs. Frau vs. all gender; Kosmopoliten vs. Nationale)?
Und die Debatten halten an, denn die USA sind für Europa Projektionsfläche. Egal ob Verfallsängste oder Zukunftshoffnung: In Amerika spiegelt sich Europas Zukunft. Es ist einfach, auf dieses „andere“ die geschmähten Anteile der Gesellschaft abzutreten: den wilden Kapitalismus, die Kulturlosigkeit, Rassismus.
Für die Sonderseiten und die Selbstverortung in den Herrschaftsverhältnissen, für die zerbrochenen Bündnisse, da braucht es die USA. Seltsam nur: Nach Osteuropa wurde kaum geschaut. Dabei sieht man dort jene Entwicklungen der Entsolidarisierung, des Antigenderismus, Rassismus und antiwestlichen (-demokratischen) Autoritarismus längst.
Kürzlich führte der Politikwissenschaftler Yascha Mounk auf Russia Today die Krise der liberalen Demokratie im Mehrfachschritt aus: die Isolierung von Oppositionellen, die Schließung kritischer Medien, das Entstehen einer alternativen Realität durch ein paralleles Infonetz, das Fakten bedeutungslos werden lässt. „Genau das ist in den vergangenen 10, 15 Jahren in Russland passiert. Das Risiko ist, dass das auch in Westeuropa und Nordamerika geschieht“, kommentiert Mounk.
Mehr als eine Witzfigur
In jedem Fall lohnt es sich, dorthin zu schauen, um etwas über soziale Erschütterungen zu lernen. Nehmen wir Wladimir Schirinowski: antisemitisch, frauenfeindlich, gewalttätig. Für seine Vorschläge, den Nordkaukasus einzuzäunen, eine Atombombe auf Istanbul zu werfen oder die Ukraine aufzuteilen, haben wir nur ein müdes Lächeln. Der Mann ist aber mehr als eine Witzfigur, sondern stellvertretender Duma-Vorsitzender. Keine „russische Anomalie“, sondern „der Begründer eines neuen, weltweiten, politischen Stils“ (Irina Prochorowa).
Aber man hat ihn exotisiert. Externalisiert. Während die Amerikaner niemals unschuldig sind, geht es bei Russland so: Krieg in Ukraine? – Selbst schuld. Besetzung der Krim? – War ja der Wille des Volkes. Die syrischen Rebellen? Schlimmer als Assad. Und was die Innenpolitik betrifft: Agentengesetz? Gesetz gegen homosexuelle Propaganda? Verschärftes Versammlungsrecht? Neue Terrorparagrafen?
In diesem Schweigen zeigt sich, was im europäischen Diskurs gerade wieder aufpoppt: die Endsolidarisierung. Der vorauseilende Gehorsam, mit dem Linke den Kampf um die Minderheitenrechte und Teilhabe opfern, für die einzustehen man sich auf der anderen Seite des Atlantiks schon lange zu fein gewesen ist. Das war okay, solange Russland den USA die Stirn geboten hat, wie man es sich in Europa nie getraut hat.
PS: Was wohl kommt, wenn Trump und Putin Freunde werden? Der große Weltfrieden?
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Treffen in Riad
Russland und USA beschnuppern sich vorsichtig