Kolumne Flimmern und Rauschen: Hey „Mr. Speaker“
Die Debatten im britischen Parlaments-TV sind derzeit echter Shakespeare. May ist in ihrer betonfrisierten Hartnäckigkeit schon zu bewundern.
U m es ganz nüchtern vorweg zu sagen: Ich bin ein bisschen verliebt. Und das liegt am Fernsehen, genauer: an einem kleinen, randständigen Auslandssender. Schuld ist der britische Parlamentsfernsehkanal parliamentlive.tv. So, jetzt isses raus.
Krass, oder? Könnte man sich bei einem Bundestags-TV schwer vorstellen. Auch Phoenix, dieser leider blutarme Ereigniskanal des deutschen Parlamentarismus, könnte sich davon mal ein paar Scheibchen abschneiden. Selbst zu Zeiten, als Norbert Lammert als Bundestagspräsident den Intendantinnen und Intendanten der öffentlich-rechtlichen Sender mit schöner Regelmäßigkeit auf den Senkel ging und mehr Bundestag im deutschen Fernsehen forderte, gab es nichts Vergleichbares.
Parliamentlive.tv wäre Lammerts digital gewordener Traum von einem eigenen großen Parlamentskanal. Gesendet werden alle Sitzungen von Ober- und Unterhaus, dazu Anhörungen und Ausschusssitzungen. Natürlich sind dank Brexit die „Proceedings“, also das Parlamentsgeschehen, ein bisschen attraktiver, aber auch sonst erreichen die Sitzungen oft beste Comedyqualität. Man wartet – leider vergeblich –, dass gleich noch Comedy-Ikone John Cleese auftritt. Aber dann kommt doch nur Boris Johnson.
Betonfrisierte Hartnäckigkeit
Derzeit sind die Debatten echter Shakespeare. Ich bin zwar nicht gerade in die Ersatz-Joan-of-Arc namens May verknallt – aber sie ist in ihrer betonfrisierten Hartnäckigkeit schon zu bewundern, zumal sie ja einst für den Verbleib in der EU gestimmt hat.
Mein Held hingegen ist „Mr. Speaker“, also der britische Lammert, der aber eine viel wichtigere Rolle hat als – sorry, folks – unser Bundestagspräsidium. Aus Gründen des guten Tons dürfen sich die Abgeordneten im Unterhaus ja nicht direkt ansprechen, sondern sprechen immer mit „Mr. Speaker“ über die anderen „honorable Ladies“ oder „Gentlemen“.
„Mr. Speaker“ heißt eigentlich John Bercow, war mal bei Mays Konservativen und trägt eine solch beseelte Arroganz und Hingabe für den Parlamentarismus und jedeN AbgeordneteN am Leibe, dass einem das Herz aufgeht. Und dann diese Sprache! Wie er Minister und durchsichtig-verbale Heckenschützen abbügelt – brillant. Dafür wollte ihn schon Mays Vorgänger David Cameron stürzen.
Und jetzt – regiert eigentlich Bercow. Zumindest ein bisschen mit: Denn weil es in Großbritannien bekanntermaßen keine geschriebene Verfassung gibt, entwickelt Bercow die Spielregeln im Parlament zugunsten der Abgeordneten weiter, was der Regierung, die bestimmte Debatten und Abstimmungen verhindern wollte, natürlich Pickel ins Gesicht treibt. Und wir dürfen dank parliamentlive.tv bei dieser Mischung aus King Lear und Democratic Big Brother live dabei sein!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin