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Kolumne ESC in Tel Aviv #7They see me rollin'

Jan Feddersen
Kolumne
von Jan Feddersen

In Tel Aviv ist er längst Normalität: Der E-Roller, das hipste Verkehrsmittel überhaupt. Beim ESC bringt er deutliche Vorteile.

In Tel Aviv nehmen selbst Trucks und SUVs Rücksicht auf E-Scooter Foto: dpa

K ommt sie – oder bleibt sie in Lissabon? Ach, der Hader um die Performance von Madonna beim ESC: Er war doch gar keiner. Die Verträge zwischen ihrer Corporate und der European Broadcasting Union sind nun unterzeichnet, alle Meldung übers Fernbleiben etc. waren nur Verhandlungspromotion.

Viel interessanter als die Frage, ob eine Künstlerin, die vom Alter her auch nur Chers und Barbra Streisands kleine Schwester wäre, beim ESC eine ihr gemäße Rolle spielen kann – die der queersolidarischen Königin* des Pop. Man muss schmerzlicherweise für Madonna sagen: Nein, kann sie nicht. Sie ist die Überbrückerin zwischen Acts, dem Eurovisionaward und der Punktezeremonie – nicht mehr, nicht weniger.

Sie kam mit Entourage im großen Flieger, sie bewegt sich hier aber nicht mit dem hipsten Verkehrsmittel überhaupt: dem E-Scooter. In Lissabon, wo sie auch lebt, wäre das eher nix. Zu hügelig.

Gleichwohl wichtiger ist die Frage, wie das alles Freitagabend wird, wenn Schabbath ist, der heilige Sonntag der jüdischen Welt. Autos fahren, klar, Taxen auch – aber der öffentliche Nahverkehr ist zum Erliegen gekommen – und zwar absichtsvoll. Das macht ESC-Tourist:innen das Leben zur Wanderei. Wie kommt man von einem Punkt zum nächsten, vor allem, wenn die Entfernung viel mehr als ein nebensächlicher Fußweg ist?

Die Lösung ist indes so einfach: Man lädt sich die App einer E-Scooter-Firma herunter. Meine trägt den Namen „Lime“ (es gibt auch „Wind“ und „Bird“ – „Lime“ ist aber schöner, die Lenker sind höher, außerdem gefällt mir die grüne Lackierung, sie erinnert an den Glanz glücklicher Frösche und das ist schön).

Keine große Freakness

Was aber das Ganze so spektakulär macht: Selbst auf der Straße kann man mit diesen Geräten rollern und bringt sich nur objektiv, nicht aber wirklich in Lebensgefahr: Interessanterweise nehmen selbst Autofahrer*innen in Trucks und SUVs sensibelst Rücksicht auf die E-Scooter. Keine Huperei, weil man nur 24 Sachen drauf hat, keine giftigen Blicke gegen die Roller*innen, weil sie sich kein fettes Geschoss leisten können.

Ich musste mich – gegen die Besorgnis meines Mannes – daran gewöhnen, auch die Straße zu nutzen. Auch dann, wenn keine Fahrrad- und E-Scooter-Wege ausgewiesen sind. Und was soll ich sagen? Es war ein wahnsinnig schönes metropoles Fahren, auch im Kreisverkehr des Industrieviertels (so geht ja Tourismus: an die Peripherien der Städte und schauen, wie es da so steht).

Die Diskussion in Deutschland um E-Scooter wirkt hier in Israel nicht nur albern, sondern ist politisch ältestes Old School. Deutschland trägt offenbar eine Autowahnkultur-DNA in sich, die schnarrende Herrschaftsverhältnisse wenigstens in Automobilhierarchien ausgedrückt sehen will. Da ist es mit überscheinpotenten Jugendlichen, die in Städten wie Berlin Autorasereien in Innenstädten veranstalten und faktisch zu Killern werden (können) keine große Freakness – sie sind wie die meisten Deutschen, nur konsequenter.

Rücksichtslosigkeit auf vier Reifen und das auch noch mit Zuhälterselbstbewusstseinsformen, so von wegen: Was gehen mich die Schwachen an – was kann ich denn dafür?

Es wird, trostloserweise, noch viele Jahre dauern, ehe in Deutschland die kollektive und toxische Autovergeiltheit runterkastriert ist. Hier in Israel funktioniert die halbwegs friedliche Koexistenz sehr. Am Schabbath jedenfalls werde ich nicht auf Taxen angewiesen sein – der Weg zur ESC-Arena führt kilometerweit am Strand vorbei, um an einem Flüsschen im Park zum Hallengelände zu gelangen – sehr relaxt!

Um es mit Greta Thunberg zu sagen: Man muss es nur wollen. Ansonsten gibt es nichts, was der Rollerei entgegenstünde. Der ESC hat Samstag sein Grand Final. Madonna muss nichts ernst nehmen, sie bekommt nur Beifall – sie muss keinem Punkteurteil sich aussetzen. Das Finale beginnt pünktlich zum Endes des Schabbath: Masel tov – weil es sowieso der Niederländer Duncan Laurence machen wird.

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Jan Feddersen
Redakteur für besondere Aufgaben
Einst: Postbote, Möbelverkäufer, Versicherungskartensortierer, Verlagskaufmann in spe, Zeitungsausträger, Autor und Säzzer verschiedener linker Medien, etwa "Arbeiterkampf" und "Moderne Zeiten", Volo bei der taz in Hamburg - seit 1996 in Berlin bei der taz, zunächst in der Meinungsredaktion, dann im Inlandsressort, schließlich Entwicklung und Aufbau des Wochenendmagazin taz mag von 1997 bis 2009. Seither Kurator des taz lab, des taz-Kongresses in Berlin,und des taz Talks, sonst mit Hingabe Autor und Interview besonders für die taz am Wochenende. Interessen: Vergangenheitspolitik seit 1945, Popularkulturen aller Arten, besonders des Eurovision Song Contest, politische Analyse zu LGBTI*-Fragen sowie zu Fragen der Mittelschichtskritik. RB Leipzig-Fan, aktuell auch noch Bayer-Leverkusen-affin. Und er ist seit 2011 mit dem in Hamburg lebenden Historiker Rainer Nicolaysen in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft, seit 2018 mit ihm verheiratet. Lebensmotto: Da geht noch was!
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