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Kolumne Der rote FadenArbeitslos die Welt retten

Ariane Lemme
Kolumne
von Ariane Lemme

Der Absturz bei Boeing rüttelt unangenehm an der eigenen Doppel- und Dreifachmoral. Hilfe fände sich in der Totalverweigerung – auch bei der Arbeit.

Hoffnung findet sich nicht über den Wolken sonder auf der Straße der Tatsachen Foto: Unsplash/ Nils Nedel

D as, worüber in dieser Woche wohl am meisten geredet wurde, würde ich am liebsten beschweigen. Angst vorm Fliegen hab ich ohnehin schon. Danke, Boeing! Ganz gleich, was du verbockt hast, die Ausbildung deiner Piloten, dein automatisches Steuerungssystem oder beides oder was ganz anderes – bring es in Ordnung!

Klar ist: Wenn bei so wenig Kenntnis der Details und Fakten so viel geredet und geschrieben wird wie jetzt beim Absturz der Boeing 737 Max 8 in Äthiopien, geht es meist um niederste Instinkte. Um etwas, was an die Urängste kratzt und selbst die zynischsten Journalisten kopflos werden lässt.

Dazu braucht es bei mir nicht viel. Schon ohne an die beiden Boeing-Abstürze zu denken – unter normalen Bedingungen also –, helfen mir auf Flügen nicht einmal zwei Tavor. Manche schlafen von den kleinen blauen Pillen ein, der Wirkstoff hilft sogar bei epileptischen Anfällen – mein innerer Autopilot aber ignoriert die Gesetze der Chemie und rast einfach weiter, unaufhaltsam, in den ­Panikmodus. Die Gesetze der Vernunft ignoriert er gleich mit: Fliegen ist die sicherste Art der Fortbewegung. Anders als etwa Fahrrad fahren in Berlin. Trotzdem denke ich, wenn ich mich hier morgens aufs Rad schwinge, nicht eine Sekunde nach, ja nicht einmal daran, einen Helm aufzusetzen.

Auch der andere – nicht der rationale, sondern der ethische – Flügel der Vernunft trägt mich aber nicht: Es wäre natürlich gut und käme meinen Nerven zugute, gar nicht mehr zu fliegen. Bei jedem kleinen Billigflug schleudere ich allein 0,75 Tonnen CO2 in die Atmosphäre und zerstöre die Zukunft der Menschheit und die meiner Kinder. Der Klimawandel ist in der Reihe meiner Neurosen nach dem Fliegen fast schon the next big thing. Fliege ich deshalb seltener? Nein. Warum nur?

Taub vom kleinherzigen Gepicke

Wenn ich die streikenden Schüler von Fridays for Future sehe, bin ich beschämt. Und ich erinnere mich an die Wut und dieses ohnmächtige Unverständnis, das ich – als Kind der 80er Jahre – angesichts von saurem Regen, Tschernobyl und Kaltem Krieg hatte: Wie kann es sein, dass die Erwachsenen wissen, was vernünftig wäre, und es trotzdem nicht tun? Das hat mich fertiggemacht, aber dann hab ich wohl den Abzweig verpasst.

Vielleicht ist es eine déformation professionelle. Wer sich ständig mit den irrationalen Ängsten anderer – Migration, Gender-„Wahnsinn“ oder was sonst noch an kleinherzigem Gepicke geboten wird – auseinandersetzen muss, dagegen argumentieren muss, verliert irgendwann den Blick für den eigenen Wahnsinn. Sich umgucken, Abgleich mit der Realität, könnte da helfen, wenn die Realität noch irgendwo rational wäre. Ist sie aber nicht, zumindest nicht rational in einem tieferen Sinn. Kurzfristig mag es ja schlau erscheinen: an der Braunkohle festhalten (Arbeitsplätze), Freihandelsabkommen aufkündigen (Arbeitsplätze für US-Bürger), aus der Europäischen Union austreten (Arbeitsplätze für Briten). Langfristig führt alles ins Chaos.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Fast könnte man bei den großen Fragen unserer Zeit – Brexit, Handelsstreit, Klimapolitik sind nur ein paar davon – auf die Idee kommen, dass das mit der Arbeit das Problem ist. Auf deren Logik, „Auf Anstrengung folgt Profit“, basiert noch immer unser ganzes Tun. Würden wir Arbeit nicht länger zum Sinn und Zweck unseres Lebens verklären, hätten wir vielleicht Zeit, uns mit dem Erhalt des Lebens zu beschäftigen. Es gibt eine Menge, wovor man derzeit mehr als genug Angst haben sollte. Flugzeuge gehören eher nicht dazu. Rassisten, Raketen und Klimawandel schon.

Deshalb sollten wir – statt gerührt und von unserer eigenen Rührung bewegt, über die für ihre Zukunft streikenden Schüler eifrig Artikel hinzukritzeln – selbst die Arbeit niederlegen. Klar, bis die Erde komplett kaputt ist, sind wir, die Erwachsenen, längst tot. Und alles, worauf wir hoffen können, ist, ein paar weise, schlaumeierische Texte zu hinterlassen. Wenn sie, als Relikte des Printzeitalters, noch gedruckt wurden, brennen sie in der Apokalypse immerhin gut.

Auf der Straße könnten wir uns selbst begegnen

Aber so egoistisch, zu denken: „Nach mir die Sintflut“, sind nicht mal die überzeugtesten Kinderlosen. Warum also hat noch niemand, der jetzt so begeistert von Fridays for Future schwärmt, zum Generalstreik aufgerufen? Sind wir Erwachsenen einfach zu faul, zu schlaff, zu ängstlich? Was könnte schlimmstenfalls passieren? Dass uns, wie mir beim Fliegen, die eigene Doppel- und Dreifachmoral unangenehm auffällt? Dass unser schön durchorganisiertes Erwachsenenleben ein bisschen unbequemer wird? Dass wir am Ende gar erkennen, wie wenig Sinn unser tägliches Tun (wir nennen es Arbeit) ganz generell und angesichts des klimatischen Sinkflugs der Welt hat?

Vielleicht würde uns auf der Straße, außerhalb unserer Büros, auffallen, wie viel mehr Sinn möglich gewesen wäre in unseren Leben. Aber noch ist es nicht zu spät. In diesem Sinne – ein frohes Wochenende!

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Ariane Lemme
Redakteurin
schreibt vor allem zu den Themen Nahost, Antisemitismus, Gesellschaft und Soziales
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6 Kommentare

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  • 9G
    93779 (Profil gelöscht)

    „Auf Anstrengung folgt Profit“?

    Hier folgt auf Anstrengung (beim Lesen, vermutlich nicht beim Schreiben) Verwunderung.

    Oder doch ein wenig Selbsterkenntnis?



    "Klar ist: Wenn bei so wenig Kenntnis der Details und Fakten so viel geredet und geschrieben wird wie jetzt beim Absturz der Boeing 737 Max 8 in Äthiopien, geht es meist um niederste Instinkte."

    Ist eigentlich Fahrradfahren je Kilometer gefährlicher als Fliegen?

    • @93779 (Profil gelöscht):

      "Auch der andere – nicht der rationale, sondern der ethische – Flügel der Vernunft trägt mich aber nicht:"

      dass die vernunft zwei flügel hat-einen ethischen und einen rationalen -ist ein bild dass der vernunft möglicherweise nicht gerecht wird.



      nach meiner meinung ist eine rationalität,die der ethik entgegengesetzt ist eine verkürzte und defiziente rationalität

    • @93779 (Profil gelöscht):

      "Ist eigentlich Fahrradfahren je Kilometer gefährlicher als Fliegen?"

      ja,aber nur wegen der autofahrer*innen.

      diese unverantwortlichen umwelt und klimasünder*innen gefährden radfahrer*innen und fussgänger*innen die die klimatische stabilität des planeten nicht gefährden



      .die zahl der schweren verkehrsunfälle die autofahrer*innen verursachen hat zwar abgenommen aber sie ist immer noch hoch.



      und wenn mensch alle seit der erfindung von autos im strassenverkehr getöteten menschen zusammenaddiert dürfte mensch auf eine sehr hohe zahl kommen,die suggeriert dass automobilismus schlimmer als terrorismus und der grössenordung nach nur mit bellizismus oder alkoholismus und nikotinismus vergleichbar ist.



      wenn man die nicht sichtbaren beiträge des automobilismus zur verkürzung der lebenserwartung auch noch mit einbezieht wird das bild noch schauerlicher

      zu bedenken ist auch dass jede(r) autofahrer*in statistisch betrachtet viele tiere tötet.

      auch elektro-autofahren ist nicht okay-denn es ist energieverschwendung, und wenn der strom von windrädern,kommt die vögel und fledermäuse töten,klebt auch blut daran.

      der private automobilismus sollte zumindest in den grossen städten ganz aufhören.

  • Wie lange müssen noch Mensch bzw Natur, der Mensch gehört dazu, sterben, bevor sich die Redlichen, in jedem von uns steckt, bestimmte Krankheiten unbeachtet, ein solcher, endlich - wie die Kinder bzw Schüler - endlich mit der Forderung melden, die Transformation in eine die Probleme des Kapitalismus bzw unserer Lebensweise lösenden demokratischen Gesellschaftsform zu fordern.

  • 9G
    970 (Profil gelöscht)

    Ja, verflucht nochmal... bin ich denn der einzige Mensch weit und breit, der seit Jahren nicht mehr geflogen ist? Weil man einfach nicht fliegen MUSS?

    • 7G
      76530 (Profil gelöscht)
      @970 (Profil gelöscht):

      DESWEGEN müssen Sie nun wirklich nicht fluchen.

      Sie sind nicht der einzige Mensch weit und breit, der auf das Fliegen verzichtet. Ich saß zuletzt 1988 im Flieger, schon zwei, drei Tage her ... Dass mir das gefehlt hätte, konnte ich bis heute nicht spüren.