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Kolumne CannesCannesFremd in der Heimat der Psychosen

Endspurt beim Filmfestival. Moullet und Haneke fragen in ihren Filmen nach den Grundlagen ländlicher Gewalt. Beeindruckend geraten Haneke die Bilder des Widerstands.

Schwarz fürs "Weiße Band": Regisseur Michael Haneke (2.v.l.), Rainer Bock und die Schauspielerinnen Roxanne Duran (2.v.r.) und Marie-Victoria Dragus. Bild: dpa

Die Launen des Zeitplans bringen es mit sich, dass Filme, die, obwohl sie im Hinblick auf Genre, Budget, Anmutung und Festivalsektion weit auseinanderliegen, unvermutet Nachbarn werden. Eben noch sitzt man im Kellerkino im Palais Stephanie und schaut den essayistischen Dokumentarfilm "La terre de la folie" ("Land des Wahnsinns"), einen Beitrag zur Quinzaine des Realisateurs; Regie führte der 1937 geborene Filmemacher und Filmkritiker Luc Moullet.

Dann beeilt man sich, in die Salle Debussy zu kommen, vorbei an einer Menschenmenge, die sich erhofft, einen Blick auf Brad Pitt und Quentin Tarantino zu erhaschen. Könnte man sich frei auf der Croisette bewegen, bräuchte man keine zehn Minuten für die Strecke, aber da gleich die Premiere von "Inglourious Basterds" beginnt, ist rund um den Roten Teppich kein Durchkommen. Also besser gleich den Umweg über die Rue dAntibes nehmen. Wenig später sitzt man in der Salle Débussy, der Vorspann zu Michael Hanekes Wettbewerbsbeitrag "Das weiße Band" beginnt. Kein Ton begleitet die weißen Schriftzüge vor dem schwarzen Hintergrund. Jedes Hüsteln, jedes "Pssst!" im Zuschauerraum ist zu hören.

Je länger Hanekes Film dauert, umso mehr drängt sich der Eindruck auf, dass sich "Das weiße Band" auf "La terre de la folie" reimt. Aus der zufälligen Nachbarschaft wird Freundschaft. Moullet erforscht das erhöhte Vorkommen von Gewaltverbrechen und Psychosen in seiner Heimatregion, den Meeralpen. Es ist eine dünn besiedelte, eher ärmliche und bäuerliche Region, vom Tourismus profitiert sie kaum. Wer als Fremder herkommt, dem wird es nicht leicht gemacht. Schilddrüsenerkrankungen kamen in der Vergangenheit häufig vor, weil es an Jod mangelte; und da die Schilddrüse, so eine der Thesen, die Moullet in seiner halb skurrilen, halb ernsthaft ethnologischen Untersuchung in den Raum stellt, den Hormon- und damit auch den Seelenhaushalt reguliert, gibt es eine erhöhte Neigung zu psychischen Störungen. Hinzu kommt, dass Missgunst, Mangel an Kommunikation und patriarchalische Strukturen als Erbe bäuerlicher Lebensbedingungen fortbestehen: auch dies ein Nährboden für Psychosen.

In einer der ersten Szenen sagt Moullet in die Kamera, dass er ein Einzelgänger sei und es nicht lange mit mehr als zwei Menschen aushalte. Am liebsten ziehe er sich auf den Dachboden oder in den Keller zurück, um sich mit seiner Sammlung von Filmspulen zu befassen. Er hat Glück: Sein Wahnsinn hat in der Cinephilie einen milden Ausdruck gefunden.

"Das weiße Band" wiederum springt ins Jahr 1913 und in ein Dorf im Norden Deutschlands. Gleich in der ersten Einstellung trägt sich ein Verbrechen zu. Das Schwarz des Vorspanns wird allmählich blasser, eine Landschaft schält sich aus der Fläche heraus, ein Baum steht rechts im Vordergrund, dazu Wiesen und Zäune, gefilmt in Schwarzweiß. In der Bildtiefe taucht ein Punkt auf, aus dem Punkt wird ein Pferd mit Reiter, als die beiden im Bildvordergrund ankommen, stürzen sie und bleiben schwer verletzt liegen. Eine Stimme aus dem Off erklärt, was den Sturz provozierte: ein kaum sichtbar über dem Boden angebrachter Draht. Es ist der Auftakt für eine Reihe von rätselhaften Vorfällen und Verbrechen, die sich im Laufe etwa eines Jahres in dem Dorf zutragen sollen.

Wie Moullet fragt Haneke nach den Grundlagen der Gewalt in der ländlichen Region. In gravitätischen Bildern zeichnet er nach, wie autoritäre Strukturen aus der Nähe aussehen, wie etwa der protestantische Pfarrer seinen Kindern ein schlechtes Gewissen einpflanzt, wie der Arzt seine Haushälterin demütigt, wie der adlige Gutsherr mit seinen Arbeitern und Arbeiterinnen nach Gutdünken umspringt. Befehl und Gehorsam, wohin man schaut.

Die Ernsthaftigkeit der mise en scène steht dabei manchmal in einem merkwürdigen Kontrast dazu, dass den Geheimnissen, die unter der Oberfläche der Wohlanständigkeit lauern, etwas Vorhersehbares eignet. Beeindruckend geraten Haneke vor allem die Bilder des Widerstands: Aus Wut auf den Baron verwüstet ein Bauernbursche mit der Sense ein Kohlfeld; die Tochter des Pfarrers tötet dessen Wellensittich mit einer Schere. Die Leiche des Vogels ordnet sie zusammen mit der Schere auf dem Schreibtisch des Vaters so an, dass ein Kreuz entsteht.

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3 Kommentare

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  • MG
    Michaela Gruber

    Es geht um die Bildunterschrift. Viele Grüsse.

  • MG
    Michaela Gruber

    Es heisst Rainer Bock. Bitte.

  • MG
    Michaela Gruber

    Hallo liebe taz! Rainer Bock. Bitte.