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Kolumne BlickeDas große Gähnen

Ambros Waibel
Kolumne
von Ambros Waibel

Das unbekümmerte Maulaufreißen ist ein Mittelklasseding von Menschen unter 50. Und weit und breit keine Hand vorm Mund.

Auch das Haustier von Ambros Waibel ist müde. Bild: dpa

E s ist ziemlich genau ein Jahr her – da sah ich es zum ersten Mal. In Gluthitze waren wir zum Münchner Hauptbahnhof gehetzt, um dem Zug nach Rosenheim dann doch nur auf den Hintern schauen zu können. Wie uns ging es anscheinend vielen, denn am Gleis 11 bildete sich eine Agglomeration zumeist jugendlicher Backpacker, insbesondere eine Traube von Backpackerinnen US-amerikanischer Herkunft.

Und während die Kinder sich ein Warteeis holten und mich das süße Gezwitscher mit all den „It’s like“ und „You know“ beinahe auf den Wanderrucksäcken sanft entschlummern ließ – da sah ich es: das große, um jede Verletzung der Intimsphäre unbekümmerte Gähnen, ein Maulaufsperren, das einen Double Cheese wegen Minderwertigkeitskomplexen zum Burger-Therapeuten getrieben hätte. Und weit und breit keine Hand vorm Mund.

Don’t be afraid: Es kommt nun nicht die gut deutsche Kritik der Yankee-Unkultur, passend zum Obama-Besuch; aber ich muss sagen: Seit ich in die rosa Rachen dieser amerikanischen jungen Damen geblickt habe, ist meine Weltsicht eine andere geworden. Ich scanne es überall, das unbekümmerte Aufreißen. Und je mehr ich davon erhasche, desto weniger gelingt es mir, mich von ihm zu lösen.

Alexander Janetzko
Ambros Waibel

ist Redakteur in den Ressorts taz2 und Meinung.

Das Phänomen betrifft Mann und Frau, sozial und nach Generationen ist es allerdings differenziert: Das große Gähnen, weiß ich nach 12 Monaten Feldforschung, ist ein Mittelklasseding von Menschen unter 50. Es betrifft bleiche Angestellte in Billiganzügen wie leger-kostbar gekleidete Manager, Sommertouristinnen, die apricotfarbene Tops zu cremefarbigen Shorts tragen, es grassiert unter Hipstern mit engen Hosen wie unter aufgetoasteten Tussen.

Ich bin sehr müde

Es starkgähnen die Zuvielbeschäftigten und Erlebnishungrigen, es zeigen ihre mandelbestückten oder beschnittenen Schlünde all jene, die immer arbeiten müssen und doch nicht auf die geile Party verzichten mögen, die, denen ein Urlaub keine Erholung, sondern nur ein Mehr und Immermehr sein kann, ganz wie dem „Kleinen Häwelmann“ von Theodor Storm seine nächtliche Fahrt unter Vater Mond.

Das große Gähnen ist das Zeichen der chronischen Überforderung und der kindlich-trotzigen Abwehr derselben. Es ist das popularisierte „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“ von Rainer Werner Fassbinder. Es ist das, wo man hineinsehen muss, wenn jeder ein Künstler, jeder seines Glückes Schmied zu sein hat. Das überlastete Individuum, es wehrt sich wie ein Löwenvater, es droht mit diesem Gähnen. Es reißt das Maul auf, weil es nichts zu sagen hat. In der Mitte der Gesellschaft gähnt ein Abgrund, es sind Zombies auf den Straßen, die nicht mehr schlafen wollen, weil sie Angst vor ihren Träumen haben.

Die Gähner zeigen der Gesellschaft ihr Zäpfchen, wie sie ihr eine Achtel Generation früher die Arschritze gezeigt haben. Sie gähnen und gähnen, und wenn sie damit fertig sind, dann schütteln sie sich und machen weiter, als hätten sie kein Loch im Kopf, mit ihren schwachsinnigen Jobs, ihren grauenhaften Vergnügungen und blinden Sightseeingtouren!

Und ja, ich gehe jetzt schnell in den Urlaub. Ich bin nämlich sehr müde.

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Ambros Waibel
taz2-Redakteur
Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.
Themen #Stress
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10 Kommentare

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  • W
    westernworld

    hier gähnt vor allem ein großes sommerloch im themenfundus des autors.

  • B
    bansin

    JA ! Ich habs auch schon oft beobachten müssen. Es hat mich sehr befremdet, besonders wenn einem in der Bahn so ein Maulaufreißer direkt gegenübersitzt.

    Ist eng verwandt mit Popeln und Zahnpulen.

  • N
    Nyx

    Beim Gähnen die Hand vor den Mund zu halten, hat mit guten Manieren rein garnyx zu tun. Es ist purer Aberglaube.

    Die Hand wird vor den Mund gehalten, weil sonst die Seele aus dem Körper entweichen oder der Teufel die Seele rauben könnte.

    Dieser Aberglaube ist in nahezu allen Kulturen zu finden, selbst die Mythenplagiatorin Joanne K. Rowling verwertete diese Vorstellung im "Kuß der Dementoren".

    Verabschieden wir uns doch vom Mittelalter und reißen endlich mal das Maul auf!

  • T
    tazitus

    "[....], mit ihren schwachsinnigen Jobs, ihren grauenhaften Vergnügungen und blinden Sightseeingtouren!"

    „APPlaus, APPlaus!“ (für Sightseeing by Braille)

     

    ... und lassen Sie es sich gut gähn.

     

    P.S.: So habe ich den Häwelmann allerdings noch nie gesehen, und ich glaube nicht, dass der Angst vorm Träumen hat. Der ist ein glückliches, genügsames Kind, dem seine Fantasie ausreicht, eine Weltreise zu absolvieren.

  • R
    ridicule

    Selbst im Urlaub die mailmotten? 2.0

     

     

    Auhauerha - da schau her, Waibels Ambros will in Rente!?

     

    Doch, doch - will aussteigen aus dem

    Gezeitenstrom.

    Da haben gerade die eher südlich verorteten

    sich - jedenfalls ansatzweise - des Sack- und Schnodder-Hochziehns

    entwöhnt;

    däh - nun das, weltweit!

     

    Tja - Alter, das kommt bei diesen Einzelerzieh/Patchwork-Erziehungstraumen raus.

    Wenn die preußische Oma nicht mehr das gute Händchen

    einfordert und die Transit-Väter nicht mehr

    60-, sondern Bayern-Fans sind.

     

    Und ist das wirklich der ausgleichende Strom?

    wenn es jetzt statt fröhlich "Prosit, wohl bekomm es euch"

    arschbackenverkniffen 'tschuldigung' röchelt und

    sich die taz, um den Öffnungsstand des Klodeckels

    ( ein Unwort at home) sorgt, ja kümmert!?

     

    Und wie ich den Kommentaren hier entnehme,

    der e.V. Freies Gähnen

    in Gründung sich befindet.

     

    Doch - das hat Lebensart, erschreckt aber in die Jahre gekommene,

    die ihren Norbert Wiener leichtfertig auf'm Flohmarkt vertickt haben.

     

    Gedächtnisschwund? Röpsen bei Tisch?

    Nur einmal riskierte es der Alte, um sich nach einer Gesundheits-Reise

    nach China…

    auf die dann gängige Formel:

    " das wird euch nochmal im falschen Moment …"

    zurückzuziehen! - " Ooo-k, wir passen auf!"

     

    Tellerablecken? - aber Hallo!

    " Brokma-Futterkalk"!!

    ( Werbetafel mit ableckendem

    Schwein - mit Serviette)

    kommentierte - meine Mutter!!

    Ja - de Ohl hatte es nicht leicht.

    So geht das.

     

    Soweit mal; wird schon werden;

    Urlaub - und Sie lieben ja Brecht!

  • E
    ennui

    "[....], mit ihren schwachsinnigen Jobs, ihren grauenhaften Vergnügungen und blinden Sightseeingtouren!"

    „Applaus, Applaus!“

     

    Bon voyage, Herr Waibel, und lassen Sie es sich gut gehen.

  • F
    felinette

    Friedlich…

     

    Nicht, dass ich es so furchtbar schön fände, meinen Artgenossen in den Rachen gucken zu können. Aber vielleicht bedienen sie sich einer im Tierreich verbreiteten Kommunikation: Verhaltensforscher haben festgestellt, dass Gähnen bei Carnivoren eine Beschwichtigungsgeste ist: „Ich bin friedlich, sei du es bitte auch…“ So gesehen…

  • R
    ridicule

    Auhauerha - da schau her, Waibels Ambros will in Rente!?

     

    Doch, doch - will aussteigen aus dem

    Gezeitenstrom.

    Da haben gerade die eher südlich verorteten

    sich - jedenfalls ansatzweise - des Sack- und Schnodder-Hochziehns

    entwöhnt;

    däh - nun das, weltweit!

     

    Tja - Alter, das kommt bei diesen Einzelerzieh/Patchwork-Erziehungstraumen raus.

    Wenn die preußische Oma nicht mehr das gute Händchen

    einfordert und der Vater nicht mehr

    60-, sondern Bayern-Fan ist.

     

    Und ist das wirklich der ausgleichende Strom?

    wenn es jetzt statt fröhlich "Prosit, wohl bekomm es euch"

    arschbackenverkniffen 'tschuldigung' röchelt und

    sich die taz, um den Öffnungsstand des Klodeckels

    ( ein Unwort at home) sorgt, ja kümmert!?

     

    Und wie ich den Kommentaren hier entnehme,

    der e.V. Freies Gähnen

    in Gründung sich befindet.

     

    Doch - das hat Lebensart, erschreckt aber in die Jahre gekommene,

    die ihren Norbert Wiener leichtfertig auf'm Flohmarkt vertickt haben.

     

    Gedächtnisschwund? Röpsen bei Tisch?

    Nur einmal riskierte es der Alte, um sich nach einer Gesundheits-Reise

    nach China…

    auf die dann gängige Formel:

    " das wird euch nochmal im falschen Moment …"

    zurückzuziehen! - " Ooo-k, wir passen auf!"

     

    Tellerablecken? - aber Hallo!

    " Brokma-Futterkalk"!!

    ( Werbetafel mit ableckendem

    Schwein - mit Serviette)

    kommentierte - meine Mutter!!

    Ja - de Ohl hatte es nicht leicht.

    So geht das.

     

    Soweit mal; wird schon werden;

    Urlaub - und Sie lieben ja Brecht!

  • M
    MoritzH

    Es ist zwar der Gipfel der Spießigkeit, doch: mich regt das Gähnen mit aufgerissenen Maul seit geraumer Zeit auf - und es ist absolut nichts speziell amerikanisches. Genauso wenig hat es auch mit chronischer Übermüdung zu tun: denn das Problem ist nicht das Gähnen, sondern das Maul-Aufreißen. Ich zweifle daran, dass Menschen früherer Zeiten generell mehr Schlaf hatten. Sicher ist eher, dass sie bessere Manieren hatten und beim Gähnen die Hand vor den Mund hielten. Vielleicht taten sie das nur, weil sie in einer autoritären Gesellschaft lebten, in der Väter schlugen und Mütter keiften. Dann wäre die Verwilderung der Sitten ein weiterer Anlass um über das 'Pyramiden-Dilemma' nachzudenken: ob schöne und erhaltenswerte Dinge (in diesem Fall: gute Manieren) nur um den Preis von Zwang und Herrschaft zu haben sind.

  • A
    anke

    Wozu, bitt'schön, sollte der Mittelklassemensch unter 50 schmerzhaft und teuer seine Zunge piercen und die Zähne richten lassen, wenn er nachher beim Gähnen die Hand vor den Mund halten wollte? Das wäre doch total ineffizient, oder? Mindestens so ineffizient wie ein Urlaub im Büro. Erholen Sie sich gut, Herr Waibel. Oder lassen Sie sich wenigstens die Zunge piercen.