Kolumbianischer Farc-Kommandant getötet: Das Rätsel um den toten Guerillero
Jesús Santrich verhandelte für die Farc-Guerilla Kolumbiens Friedensabkommen. Dann griff er wieder zu den Waffen. Jetzt soll er getötet worden sein.
Die Farc-Dissidenten-Gruppe, die Santrich anführte, meldete seinen Tod am Dienstag auf ihrer Webseite. Demnach soll der 53-Jährige am Montag von kolumbianischen Spezialeinheiten in Venezuela getötet worden sein.
Laut New York Times und der kolumbianischen Zeitschrift Revista Semana haben hochrangige Offizielle aus Venezuela dies ihnen gegenüber getan. Offiziell hat weder die venezolanische noch die kolumbianische Regierung seinen Tod bisher bestätigt. Doch die Wahrscheinlichkeit ist hoch.
Der kolumbianische Verteidigungsminister Diego Molano sagte am Dienstag auf Twitter, die Information werde noch verifiziert. Seitdem hat er sich nicht mehr dazu geäußert. Auch wenn Kolumbien gerade in die vierte Woche mit nationalen Streiks gegen die Regierung geht und der Verteidigungsminister sich demnächst vor dem Parlament wegen der brutalen Polizeigewalt äußern muss, ist dies erstaunlich.
USA forderten seine Auslieferung wegen Drogenhandel
Der Mann mit der schwarzgetönten Sonnenbrille und dem karierten Palästinensertuch ist eines der prominentesten Gesichter des Friedensprozesses. Die schwarze Brille trug er, weil er vor zehn Jahren wegen einer Krankheit praktisch erblindete.
Jesús Santrich war einer der härtesten Verhandler beim Friedensabkommen, das die Guerilla 2016 mit dem kolumbianischen Staat schloss. Mehr als 50 Jahre hatte der bewaffnete Konflikt gedauert und mindestens 220.000 Menschenleben gekostet.
Von den Parlamentssitzen, die das Abkommen der neuen Farc-Partei sicherte, hätte einer Santrich zugestanden. Doch er konnte ihn nicht antreten. Kolumbianische und US-Behörden beschuldigten ihn, wieder in den Drogenhandel eingestiegen zu sein. Ein Jahr verbrachte er in Untersuchungshaft. Die USA forderten seine Auslieferung. Es kam es zu Skandalen um verschlampte oder nicht weitergereichte angebliche Beweise. Zuletzt hieß es, die US-Drogenbehörde DEA könnte zusammen mit der kolumbianischen Staatsanwaltschaft Beweise gefälscht haben.
Das alles gefährdete den Friedensprozess. Hochrangige Ex-Farc-Kommandanten drohten, sie würden aus dem Abkommen aussteigen, sollte Santrich in die USA ausgeliefert werden. Die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) und die Staatsanwaltschaft stritten um die Zuständigkeit. Die JEP entschied schließlich, Santrich aus Mangel an Beweisen freizulassen – was ein politisches Erdbeben auslöste. Präsident Iván Duque kritisierte das scharf. Generalstaatsanwalt und Justizministerin traten zurück.
Eiseskälte zwischen Kolumbien und Venezuela
Kurz nach seiner Freilassung tauchte Santrich unter. Das nächste Mal sahen ihn die Kolumbianer*innen an der Seite des ebenfalls untergetauchten Friedensabkommen-Mitverhandlers Iván Márquez wieder in einem Bekennervideo, wo sie die Gründung einer neuen Farc-Gruppe namens „Segunda Marquetalia“ verkündeten.
Die kolumbianische Regierung hatte Santrich schon lange in Venezuela vermutet. Beide Länder haben auf ihrem Gebiet Farc-Dissidenten, ELN-Guerilla und andere bewaffnete Gruppen – und beschuldigen einander, diese zu tolerieren.
Beziehungen zwischen Kolumbien und Venezuela existieren seit 2019 offiziell nicht mehr – und sind derzeit auf einem Tiefpunkt. Auch deshalb wird wohl nie herauskommen, wer Santrich tötete.
Eine kolumbianische Militäraktion auf venezolanischem Staatsgebiet wäre eine Verletzung der Souveränität. Santrichs Splittergruppe sympathisiert offen mit der Maduro-Regierung – und umgekehrt. Das spricht dagegen, dass die venezolanische Armee ihn tötete. Bleibt die Hypothese, dass er bei einem Kampf zwischen illegalen Gruppen starb.
Seit zwei Jahren hat sich die Situation in der Grenzregion massiv verschärft. Die über 2.000 Kilometer lange Grenze ist in großen Teilen staatlich unbewacht und stattdessen kontrolliert von Mörderbanden. Sie kämpfen um die Herrschaft über Drogen- und Menschenhandel sowie illegalen Bergbau. Im März startete die Regierung Venezuelas die größte Militäraktion seit Jahrzehnten gegen bewaffnete Gruppen im Bundesstaat Apure. Tausende Menschen sind vor den Kämpfen nach Kolumbien geflohen.
Vor wenigen Tagen hatte das Oberste Gericht Kolumbiens einer Auslieferung Santrichs in die USA zugestimmt. Deshalb ist eine weitere, allerdings unwahrscheinliche Theorie, dass Santrich in Wirklichkeit noch lebt und sein Tod eine reine Inszenierung ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs