Klimaziele und EU-Ratspräsidentschaft: Doch noch Klimakanzlerin?
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft steht vor einem Kraftakt: Mit den Coronamilliarden muss Angela Merkel Europa endlich zukunftsfähig machen.
N och im Frühjahr war der Lack von der „Klimakanzlerin“ Angela Merkel ab: Der Kohleausstieg bis 2038 kam zu spät, das „Klimapaket“ der Großen Koalition war halbherzig, die Vorreiterrolle Deutschlands vorbei und der Green Deal der EU-Kommission war zwar ambitioniert, aber die Finanzierung völlig ungewiss.
Aber unverhofft kommt oft. Vier Monate und eine Coronakatastrophe später hat sich Deutschland mit Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft plötzlich zum Hoffnungsträger gemausert: Vielleicht, hoffen jetzt viele, macht die EU mit ihren eigenen Ansprüchen bei Klima- und Nachhaltigkeitszielen doch noch ernst. Auf der Ratspräsidentin Angela Merkel ruhen große Erwartungen: Sie soll nicht nur die EU durch die Pandemie führen, den Brexit heil über die Bühne bekommen und einen EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre durchboxen. Nein, die Deutschen sollen auch ein verschärftes EU-Klimaziel und den sozial-ökologischen Umbau der EU in die Wege leiten. „Ob sie es wollen oder nicht, deutsche Hände führen jetzt die Machthebel der EU“, schreibt der Economist.
Tatsächlich könnte die Covid-19-Pandemie die Ökowende auf EU-Ebene vorantreiben. Weniger, weil in der Wirtschaftskrise die CO2-Emissionen massiv zurückgehen oder vielen klar wird, wie abhängig wir von der Natur sind. Nein, die Chance liegt vor allem beim Geld: Zeigten sich die EU-Staaten bisher als „geizige 27“, wenn es um Umweltprogramme ging, sprudeln plötzlich die Milliarden. Jetzt oder nie muss das Geld in den grünen Umbau fließen. Wenn aber die alte fossile Wirtschaftsordnung verlängert wird, gehen die EU-Ziele für Klima und Nachhaltigkeit in Rauch auf.
Entscheidend dabei wird die „Bazooka“ von 750 Milliarden Euro, die Merkel, SPD-Finanzminister Olaf Scholz, der französische Präsident Emmanuel Macron und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen schwingen. Ob und wie diese Geldmenge eingesetzt wird, entscheidet über den Zusammenhalt und die Zukunftsfähigkeit der EU. Merkel sagt, Klimaschutz stehe bei ihrer Ratspräsidentschaft „ganz oben auf der Agenda“.
Wenn das nicht nur Gerede ist, muss die Kanzlerin mit ihrem Team nun einen Kraftakt vollbringen: den ohnehin umstrittenen EU-Haushalt mit dem nicht weniger umstrittenen Green Deal zu verschrauben. Die Ausgabe von Steuergeld der EuropäerInnen muss unter Ökovorbehalt gestellt werden: die Leitlinien der EU für eine öko-soziale Finanzpolitik müssen jetzt sicherstellen, dass kein EU-Geld mehr in Kohle und Gas fließt.
Europa muss außerdem sein CO2-Reduktionsziel auf minus 55 Prozent bis 2030 festschreiben, um die Versprechen aus dem Pariser Abkommen halbwegs zu erfüllen. Dafür braucht es mutige Einschnitte beim EU-Emissionshandel, bei den nationalen Klimazielen und bei reformierten EU-Richtlinien etwa zu Effizienz, Erneuerbaren oder weiter sinkenden CO2-Grenzwerten bei Autos.
Bei diesen Kämpfen zwischen den EU-27 soll das 750-Milliarden-Paket viele Wunden heilen. Diese Balance auszutarieren wird Merkels Aufgabe sein: Kann sie die reicheren „geizigen vier“ überzeugen, dass sie mehr Geld geben müssen, wenn sie mehr Klimaschutz wollen? Kann sie die ärmeren Süd- und Ostländer dazu bewegen, im Gegenzug ihre Kohleindustrie abzuspecken und ihre Gebäude zu dämmen?
Wenn es eine kann, dann Merkel
Kann Angela Merkel das erreichen? Sagen wir es so: Wenn es eine kann, dann sie. Merkel durchdringt das Thema Klima und Nachhaltigkeit in all seinen Facetten; sie ist länger im Amt als ihre Amtskollegen aus Frankreich, Italien, Spanien und Polen zusammen; sie hat in der Krise ihr Sparsamkeitsdogma über Bord geworfen, als sie zusammen mit Macron das Hilfspaket vorstellte; sie ist eine Meisterin darin, in zähen Verhandlungen ihre Punkte zu setzen: 2015 schmuggelte sie den Begriff „Dekarbonisierung“ in die G7-Erklärung von Elmau, der zentral für das Pariser Abkommen wurde. Im letzten Jahr winkte sie in der EU und in Deutschland die Verpflichtung zur „Klimaneutralität“ durch – der einen Rattenschwanz an Veränderungen etwa beim Emissionshandel nach sich zieht. Und im Mai legte sie sich (und damit Deutschland) darauf fest, das EU-Ziel von minus 50 bis 55 Prozent anzustreben.
Allerdings hat sie sich in 15 Amtsjahren oft nicht getraut, das Thema gegen Widerstände im eigenen Lager zu bewerben oder offensiv zu vertreten. Merkel hat der deutschen Exportindustrie in Brüssel den Rücken freigehalten und dem Gegrummel ihrer Fraktion im Bundestag nachgegeben, wenn es darum ging, die Energiewende zu bremsen. Für einen Konflikt mit der eigenen Klientel war ihr das Klimathema – anders als die Flüchtlingsfrage 2015 – nie drängend genug.
Ein Jahr vor ihrem Rückzug sollte die Kanzlerin nach normalen Maßstäben eine „lahme Ente“ ohne viel Gestaltungsmacht sein. Das Gegenteil ist der Fall: In Umfragen ist Angela Merkel populär, ihre Union steht in der Krise stark da. Merkel muss weniger Rücksicht auf ihre bockige Fraktion nehmen und kann auch Umfragen verweisen, die zeigen: Beim Wahlvolk ist Klimaschutz deutlich populärer als bei den CDU/CSU-Abgeordneten. Für eine schwarz-grüne Ausrichtung der nächsten Regierung könnte Merkel nichts Besseres tun, als die EU auf einen klimafreundlichen Kurs mit massiven Investitionen in neue Jobs, grüne Infrastruktur und Digitalisierung zu bringen. Und mit Glück gibt es bald auch noch Unterstützung aus Übersee: Wird am 3. November Joe Biden zum US-Präsidenten gewählt, drängt Klimaschutz mit Macht zurück auf die internationale Tagesordnung.
Angela Merkel ist nicht eitel, sondern pflichtbewusst. Offenbar geht es ihr weniger um ihren „Platz in der Geschichte“ als darum, das wackelnde Projekt der EU zu sichern und voranzutreiben. Mit der richtigen Antwort auf die multiplen akuten Krisen von Corona, Wirtschaft und Klima kann Angela Merkel wichtige Weichen für die Zukunftsfähigkeit unseres Kontinents stellen. Man kann ihr dabei nur viel Erfolg wünschen.
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