Klimavisa für Tuvaluer: Die Vertreibung aus dem Inselparadies – mit geopolitischen Folgen
Dem Inselstaat Tuvalu im Pazifik droht binnen weniger Jahrzehnte der Untergang. Rund 80 Prozent der Bevölkerung haben nun ein Visum für Australien beantragt.

Bis 2050 sollen tägliche Gezeiten die Hälfte des Hauptatolls Funafuti überflutet haben, sagt die Wissenschaft. Auf dem oftmals nur 20 Meter schmalen Streifen Land leben 60 Prozent der Menschen des Landes. Tuvalu könnte die erste Nation der Welt sein, die komplett dem steigenden Meeresspiegel zum Opfer fällt.
So muss nicht erstaunen, dass viele der etwas über 10.000 Bewohnerinnen und Bewohner jede Gelegenheit nutzen, um das Land zu verlassen. Ein Angebot Australiens für ein entsprechendes Visum ist in der Inselnation auf überwältigendes Interesse gestoßen. Seit der Eröffnung einer Visa-Lotterie Anfang Juni haben laut offiziellen Zahlen 8.750 Personen ihr Interesse angemeldet, wie es Ende Juli hieß. Inklusive der Familienangehörigen der Erstregistrierten liegt die Zahl der Auswanderungswilligen damit bei über 80 Prozent der Bevölkerung. Seit dem 25. Juli läuft die Lotterie, ein halbes Jahr lang bis Ende Januar 2026.
40 Jahre dauert rechnerisch der Insel-Umzug
Doch die meisten werden warten müssen: Eine Obergrenze von 280 Visa pro Jahr soll sicherstellen, dass die Migration nach Australien nicht zu einer Abwanderung von Fachkräften führt. Damit würde es rein rechnerisch etwa 40 Jahre dauern, bis die komplette Bevölkerung umgezogen ist. Australien hatte das Visum im Rahmen eines 2024 unterzeichneten Klima- und Sicherheitsabkommens mit Tuvalu angekündigt. Es sei ein Zeichen gutnachbarlicher Beziehungen, so der australische Premierminister Anthony Albanese damals, ein Bekenntnis zur sogenannten „pazifischen Familie“.
Gegenüber der Nachrichtenagentur AFP meinte das australische Außenministerium, der Vertrag sei „weltweit das erste Abkommen dieser Art, das angesichts der sich verschärfenden Klimafolgen einen Weg für eine würdevolle Mobilität ebnet. Außerdem bietet es den Tuvaluanern die Möglichkeit, in Australien zu leben, zu studieren und zu arbeiten“.
Letiu Afelee, Vater von fünf Söhnen, hält den Vertrag, den sogenannten Falepili-Pakt, für dringend nötig. „Wenn die Vorhersagen stimmen und Tuvalu in 50 Jahren unter Wasser ist, brauchen wir einen Ausweg“, sagte er dem britischen Guardian.
Der Falepili-Pakt verpflichtet Australien auch, Tuvalu im Falle von Naturkatastrophen, Gesundheitskrisen und „militärischen Aggressionen“ zu verteidigen. „Zum ersten Mal gibt es ein Land, das sich rechtlich verpflichtet hat, Tuvalu auf dessen Bitte hin zu Hilfe zu kommen, wenn Tuvalu von einer schweren Naturkatastrophe, einer Gesundheitskrise oder einer militärischen Aggression betroffen ist“, so der tuvaluanische Premierminister Feleti Teo.
Andere Stimmen feierten das Abkommen als „Vorbild für Klimagerechtigkeit“. Doch Kritiker sagen, die vermeintliche Großzügigkeit Australiens habe einen Haken. Denn im Gegenzug musste sich Tuvalu verpflichten, keine sicherheits- oder verteidigungsbezogenen Abkommen mit anderen Ländern einzugehen, ohne Australien vorher zu konsultieren.
Für Beobachter ist klar, mit dieser Klausel versucht Australien, den wachsenden Einfluss Chinas im pazifischen Raum zu kontrollieren und einzudämmen: Visa gegen Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit. Tuvalu ist einer von nur zwölf Staaten, die noch formelle diplomatische Beziehungen zu Taiwan unterhalten. China sieht den östlich von seiner Küste gelegenen Inselstaat als Teil seines Staatsgebiets an.
Laut der Politologin und Sicherheitsexpertin Emma Shortis von der Denkfabrik Australia Institute in Canberra hat Australien noch aus einem anderen Grund ein Glaubwürdigkeitsproblem, wie sie gegenüber der taz erklärt: Seit Jahrzehnten bereisten australische Politiker die pazifische Region. „Sie erkennen dabei zwar an, dass der Klimawandel und seine Folgen ein existenzielles Sicherheitsproblem darstellen für die Pazifikstaaten. Dann aber kehren sie nach Hause zurück und bewilligen neue Kohleminen und Gasfelder.“
Drittgrößter Kohleexporteur
Australien ist der drittgrößte Kohleexporteur weltweit und trägt damit maßgeblich zur globalen Klimakrise bei. Die sozialdemokratische Regierung unter Anthony Albanese hat mehrfach klargemacht, den lukrativen Handel mit den fossilen Rohstoffen in Zukunft sogar noch stärken zu wollen.
Analystin Shortis meint, Politiker:innen und Bewohner:innen der pazifischen Inselnationen hätten die Doppelmoral Canberras schon lange durchschaut. Wenn es um das Thema Klima gehe, gelte Australien im Pazifik schon seit Jahren als das, was man in der Sicherheitspolitik einen „bad faith actor“ nennt – einen böswilligen Akteur.
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