Klimakrise vertreibt Arten: Das große Wandern
Die Lebensräume für viele Tiere und Pflanzen verschieben sich in Richtung der Pole. Viele bleiben dabei zurück – und neue Arten bringen neue Krankheiten.
„Die Pflanze hat sich vor zunehmender Hitze immer weiter zurückgezogen, sie wächst nur noch ganz oben auf der Bergspitze, auf wenigen Hektar“, sagt Horst Korn, Leiter der Abteilung Internationaler Naturschutz beim Bundesamt für Naturschutz (BfN). Und auch dort werde sie es nicht mehr lange aushalten: „Es wird für die Brockenanemone selbst dort oben einfach zu warm.“
Wegen steigender Temperaturen haben sich die Lebensräume für viele Tiere und Pflanzen im weltweiten Durchschnitt bereits um rund 17 Kilometer pro Jahrzehnt in Richtung der Pole verschoben, umgerechnet 4,5 Meter pro Tag. Bei stärkerem Klimawandel nimmt das Tempo zu, und viele Spezies werden dann schlicht nicht mehr hinterherkommen.
Etliche Schmetterlingsarten zum Beispiel können nicht in kühlere Gebiete in den Norden weiterziehen, sie sind auf bestimmte Futterpflanzen für ihre Raupen angewiesen, die nur bei uns wachsen. Der Moselapollofalter beispielsweise – die Futterpflanze für seine Raupen, die Weiße Fetthenne – kommt weltweit nur an den felsigen Steilhängen im Moseltal vor. Normalerweise überwintern die Raupen bis zum April, aber wegen der zunehmend ausbleibenden Frosttage schlüpfen sie jetzt immer früher und finden kein Futter, weil die Fetthenne dann noch nicht herangewachsen ist.
Hitzewellen dauern länger
Für die 2021er Ausgabe seines „Vulnerabilitätsberichts“ hat der Deutsche Wetterdienst im Auftrag des Umweltbundesamtes die künftigen Hitzewellen mit neuesten Klimamodellen genauer simuliert. Demnach werden sie nicht nur häufiger, sondern auch länger. Früher dauerten Hitzewellen in Deutschland drei oder vier, höchstens mal fünf Tage. Bis Mitte des Jahrhunderts werde die Länge – regional unterschiedlich – um vier bis sieben Tage zunehmen, sich also mehr als verdoppeln. Bis Ende des Jahrhunderts drohe mancherorts sogar eine Verdreifachung. Die längsten Hitzewellen werde es dann im Berliner Raum geben, in Teilen des Oberrheingrabens (vor allem auf der Höhe des Pfälzer Waldes) und im südwestlichen Saarland.
Das wird fatale Folgen für die Natur haben. Das BfN hat mehr als 500 in Deutschland geschützte Tierarten untersucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass lediglich 11 Prozent von ihnen wohl relativ problemlos mit der zu erwartenden Klimaerhitzung klarkommen werden. Für 77 Prozent der untersuchten Tierarten bringt sie ein mittleres Überlebensrisiko, 12 Prozent werden als Hochrisikogruppe klassifiziert.
Aggressive Verdrängung
Andererseits überleben neuerdings Arten, für die es früher viel zu kalt in unseren Breiten war. Etwa die Pazifische Auster, die ursprünglich vor den Küsten Koreas und Japans zu Hause ist. „Seit 1962 ist die Jahresmitteltemperatur der Nordsee um 1,7 Grad gestiegen“, sagt Karen Wiltshire, Vize-Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts und Leiterin der Außenstelle auf Sylt. Beste Bedingungen für die Auster aus Asien, die sich aggressiv ausbreitet und die einheimische Miesmuschel längst zu einem großen Teil verdrängt hat – und damit ganze Nahrungsketten in Gefahr brachte: Heimische Enten oder Möwen ernähren sich von Miesmuscheln, die dicken, sperrigen Schalen der zugewanderten Austern können sie hingegen nicht knacken.
Auch die Fischereibranche merkt das. Statt kälteliebender Speisefische wie Makrele oder Kabeljau finden die Fischer zunehmend Thunfisch oder Kalmare in ihren Netzen. In der südlichen Nordsee werden Sardinen bereits gezielt befischt, 2019 wurden 50 Tonnen gefangen. Verglichen mit den immer noch knapp 400.000 Tonnen Nordsee-Hering ist das alledings bislang kaum von Bedeutung. Die Fänge der Neuankömmlinge sind noch zu sporadisch, um die klimabedingten Verluste bei den früheren Fangarten auch nur annähernd auszugleichen. „Wir messen, dass sich die Nordsee doppelt so schnell aufheizt wie die globalen Ozeane“, sagt Wiltshire. Das liegt vermutlich daran, dass die Nordsee relativ flach ist und viele Flüsse in sie münden.
Eine BfN-Studie ergab, dass die Artenvielfalt in manchen Regionen drastisch einzubrechen droht. In einem ersten Schritt ermittelten die Experten, wo die artenreichsten Pflanzenbiotope zu finden sind: in den Alpen und im Alpenvorland, in den süddeutschen Mittelgebirgen, in Teilen des Erzgebirges und der zentralen Mittelgebirge. 350 bis 450 der 550 untersuchten Pflanzenarten sind dort heimisch. Artenärmer sind die Küstenregionen und das deutsche Tiefland, wo 115 bis 200 der untersuchten Spezies gefunden wurden.
Neuankömmlinge mit Tücken
In einem zweiten Schritt betrachteten die Experten, was die absehbaren Klimaveränderungen für diese Pflanzenvorkommen bedeuten. Ergebnis: Bereits bis Mitte des Jahrhunderts gehen 15 bis 95 Arten an ihren jetzigen Standorten verloren. Besonders treffen wird es jene Gebiete, die sich schon stark erwärmt haben: der Rheingraben im Südwesten, Gebiete in Sachsen und Sachsen- Anhalt, am schwersten Brandenburg. Dort wird der Prognose zufolge bis zur Hälfte der heute anzutreffenden Pflanzen verschwinden.
Die einwandernden Arten bringen oft Probleme mit. Beispielsweise der wärmeliebende Riesenbärenklau, der aus Kleinasien stammt und sich mittlerweile prächtig in unseren Breiten vermehrt. Dummerweise sondert die bis zu drei Meter hohe „Herkulesstaude“ einen giftigen Saft ab, der ihn besonders für Kinder zu einer gefährlichen Pflanze macht. Die Asiatische Tigermücke wurde erstmals 2014 am Oberrhein nahe Freiburg registriert, inzwischen sind die Überträger von tropischen Krankheiten wie Chikungungya-, Dengue- oder Gelbfieber in größeren Städten angekommen, in Freiburg, Heidelberg, sogar weit entfernt, im thüringischen Jena.
Zecken übertragen Erreger wie Borreliose-Bakterien oder FSME-Viren, Letztere können zu gefährlichen Gehirnentzündungen führen. Galten früher nur Regionen ganz im Süden als Risikogebieten, hat das Robert-Koch-Institut inzwischen 164 Landkreise (und damit mehr als jeden zweiten überhaupt) zu solchen erklärt: 2019 kam mit dem Emsland in Niedersachsen erstmals ein Kreis in Norddeutschland hinzu.
Muss der Mensch dafür sorgen, dass der Moselapollofalter überlebt? Brauchen wir Brockenanemone und Miesmuschel wirklich? Oder können die vielleicht weg? Horst Korn vom Bundesamt versucht die Antwort mit einer Gegenfrage: „Brauchen wir den Kölner Dom?“
Der Biologe meint das völlig ernst. Natürlich betreffe das Überleben bedrohter Spezies einen kulturellen Aspekt: „Wir Menschen haben Verantwortung – für das Überleben des Moselapollofalters genauso wie für den Erhalt dieses berühmten Gotteshauses.“ Denn die Erderwärmung sei ja kein Naturphänomen, „sie ist menschgemacht, also von uns“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert