Klanggewissheiten zerpflückt: Tanz auf dem Altar der Elbphilharmonie
Auch die zweite Elbphilharmonie-Spielzeit stellt europäische Klang-Gewissheiten infrage. Und zur Eröffnung werden Bachs Cello-Suiten vertanzt
HAMBURG taz | Diese Musik macht süchtig. Wenn der Cellist beginnt, wird man sofort eingesogen und will alles bis zum Ende hören: Zu einem spannenden Krimi verdichten sich Johann Sebastian Bachs Cello-Suiten, und wer dachte, Cello solo sei abstrakt und ermüdend, irrt. Nach drei Minuten hat man vergessen, dass da nur ein einziges Instrument spielt. Man hört ein ganzes Orchester mitschwingen – und das mit einer so klugen Dramaturgie aus An- und Entspannung, als säße da ein begnadeter Geschichtenerzähler.
Wie Verästelungen feiner Blattadern – oder menschlicher Nervenzellen – verwebt Bach Motive und Melodien, kommt quasi vom Hölzchen aufs Stöckchen. Doch was klingt wie improvisiert, ist streng durchdacht und orientiert sich an alten höfischen Tänzen wie Menuett und Sarabande.
Natürlich hat der Bach sie abstrahiert und stilisiert. Aber warum soll man das nicht aufdröseln und in Tanz zurückübersetzen? Das hat sich die belgische Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker gefragt und mit dem Cellisten Jean-Guihen Queyras eine Kooperation, ein künstlerisches Komplott geschmiedet: Cello und fünf TänzerInnen weilen zur Spielzeit-Eröffnung gemeinsam auf der Bühne der Elbphilharmonie. Queyras spielt mit den Suiten zum Tanz auf, und die TänzerInnen verleihen der Musik Sinnlichkeit und live performtes Leben. Sie zitieren auch Posen der alten Tänze, aber immer nur kurz.
Im Übrigen folgen sie der Bach’schen barocken Dramaturgie variierender Tempi und Stimmungen, zeichnen Gemütszustände des Menschen, vielleicht der Menschheit nach.
„Mitten wir im Leben sind“ hat de Keersmaeker das von der Elbphilharmonie mit initiierte Stück genannt. Das Zitat stammt von Luther und lautet weiter: „Mit dem Tod umfangen“, passend zum diesjährigen 500. Reformations-Jubiläum. Und es ergibt Sinn, gelten die Cellosuiten manchem doch als Vergöttlichung des Tanzes, vielleicht gar als musikalisches Gebet.
Genau so wirkte die Performance von Anne Teresa de Keersmaekers Compagnie „Rosas“ dem Vernehmen nach bei der Uraufführung am Samstag vergangener Woche bei der Ruhrtriennale. Getanzt wurde in einer Gladbecker Maschinenhalle vor geöffneten Fenstern in der Dämmerung. Den Schlussakkord setzte ein Spot aus grellem Licht, Symbol von Hoffnung und – Auferstehung?
Der Elbphilharmonie-Saal hat keine Fenster. Also wird man eine künstliche Dämmerung basteln, aber was macht das schon angesichts eines so spannenden „Tanzes auf dem Altar“? Erstmals wird ja das Allerheiligste der Elbphilharmonie betanzt: die Bühne selbst. Das ist eine schöne Fortsetzung der tänzerischen Landnahme vor der Eröffnung im Januar. Damals hatte Sasha Waltz’Compagnie Treppen und Gänge der Elbphilharmonie betanzt. Aber es war eben noch nicht „Heiligabend“, und man blieb brav draußen vor der Saaltür.
Jetzt ist offen, das Haus eingespielt, erste Debatten über die Qualität des NDR-Elbphilharmonie-Orchesters sind entbrannt. Der einst gefeierte Chefdirigent Thomas Hengelbrock wurde zu 2019 wenig elegant geschasst; Alan Gilbert von den New Yorker Philharmonikern soll es richten. Jeffrey Tate, Chef der Hamburger Symphoniker, im Spielzeit-Programmheft noch abgebildet, verstarb im Juni. Derweil geben sich internationale Künstler und Orchester, wie prophezeit, die Klinke der Elbphilharmonie in die Hand.
Und auch wenn die Konzerte weiterhin ausverkauft sind, ist so etwas wie Alltag eingetreten. Der Wundertüten-Nimbus ist weg, die Nachteile der gnadenlosen Akustik liegen offen zutage. Da ist es für die zweite Spielzeit durchaus angemessen, den Pomp des Eröffnungskonzerts nicht zu wiederholen, sondern Feinsinniges zu kredenzen und allenfalls über Genre-Grenzen zu springen.
Genre- und Denkgrenzen überschreitet die zweite Saison auch in den Folgemonaten. Hinterfragung des eurozentristischen Blicks, Relativierung europäischer Klanggewissheiten und Deutungsmacht lauten die Stichworte.
Begonnen hatte dieser Diskurs schon in der Eröffnungssaison. Da war zum Beispiel das Festival „Salam Syria“, das neben dem Syrian Expat Philharmonic Orchestra (SEPO) einen syrisch-deutschen Projektchor präsentierte und Willkommenskultur live praktizierte.
Jordi Savalls „Routen der Sklaverei“ offenbarten einige Wochen später die Durchmischung europäischer, karibischer und afrikanischer Klänge. Eng verwobene Geschichte ist in diese Musik gefräst, das kolonialistische Machtgefälle aufgehoben.
Die kommende Saison macht sich daran, den europäischen „Klassik“-Begriff zu dekonstruieren: Klassik aus Afrika, Pakistan und dem alten Persien erklingt beim Festival „Klassik der Welt“. Westafrikanische Griots – den einstigen europäischen Troubadouren vergleichbare Hofsänger – werden auftreten und die These vom allein kulturbegabten globalen Norden einmal mehr widerlegen.
Auch die „Kaukasus“-Konzertreihe mit Musik aus Georgien, Aserbaidschan und Armenien stellt ungerührt alte liturgische Gesänge neben Volksmusik, Klassik und Jazz und erinnert daran, dass sich europäische Klassik-Komponisten oft bei weltlicher Musik bedienten.
Ganz nebenbei lenkt das Festival den Blick auf den weiter schwelenden Kaukasus-Konflikt und den Völkermord an den Armeniern. Denn Art und Inhalt von Musik sind immer Ausdruck politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse – zumal Lieder oft das Einzige sind, was Überlebende und Geflohene mitnehmen können.
Klug war es auch, dem israelischen, inzwischen in Paris lebenden Pianisten Yaron Herman eines der beiden „Reflektor“-Wochenenden der kommenden Saison zu gewähren. Benannt sind diese „sturmfreien“ Tage neckisch nach dem riesigen Reflektor an der Decke des großen Elbphilharmonie-Saals. Inhaltlich darf Herman Musiker und Stücke spontan und frei wählen.
Womit wir wieder bei Bachs nur scheinbar improvisierten Cello-Suiten wären. Denn Yaron Herman hat eine wichtige Theorie der Improvisation entworfen. Sie reflektiert die Grenze zwischen Festlegung und Spontaneität, zwischen Gesetz und Freiheit und nennt sich „Real Time Composition“.
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