Kinder von IS-Terroristen: Opfer oder kommende Täter?
Erstmals holt das Auswärtige Amt ein deutsches Kind eines im Irak inhaftierten Islamisten nach Deutschland. Weitere dürften folgen.
Vor einigen Tagen saß Mohamed H. (Name geändert) schließlich im Flieger, von Bagdad Richtung Deutschland. Kurz zuvor befand sich der 14 Monate alte Junge noch mit seiner Mutter, der Deutschtürkin Sibel H., in irakischer Gefangenschaft. Als Anhänger des „Islamischen Staats“ beschuldigen die Behörden die 30-jährige Frau aus Hessen und ihren Partner Deniz B. Ihren Sohn Mohamed hat nun, nach intensiven Verhandlungen, der Großvater an sich genommen.
Der Fall Mohamed H. ist ein Novum. Der Junge ist im Irak geboren, er kannte bisher nur das Leben in Kampfgebieten und zuletzt im Gefängnis. Nun kommt er nach Deutschland, ohne Eltern, auf Vermittlung des Auswärtigen Amtes. Und den Behörden bleiben gleich mehrere Herausforderungen: Wie wächst der Junge hierzulande auf? Wie bewältigt er die Bürde, Kind von Terrorverdächtigen zu sein? Und was ist mit den Eltern? Können sie nachgeholt werden? Sollten sie?
Dabei ist Mohamed H. bei Weitem kein Einzelfall. Mehr als 960 Islamisten sind in den letzten Jahren von Deutschland nach Syrien und dem Irak ausgereist, ein Fünftel davon Frauen. Einige von ihnen nahmen bereits Kinder mit, andere bekamen diese vor Ort. Es sind nicht wenige: Die Bundesregierung zählt in der Region mindestens 290 Kinder und Jugendliche mit deutscher Staatsbürgerschaft, die allermeisten im Baby- oder Kleinkindalter. Bisher mit den Eltern zurückgekehrt sei nur „eine geringe Zahl“ der Minderjährigen, so das Bundesinnenministerium. Dass eines der Kinder selbst an Gewaltakten teilnahm, dafür gebe es noch keine Hinweise.
Bundesverfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen warnt dennoch bereits vor „lebenden Zeitbomben“. Die Kinder könnten verroht und indoktriniert aus dem Kriegsgebiet zurückkommen und leichter instrumentalisiert werden. Maaßen verweist auf IS-Propagandavideos, in denen auch Kinder auftauchen. In einem erschießt ein Junge einen Gefangenen, andere zeigen Schießübungen von Kleinkindern.
In Hannover stach 2016 eine 15-jährige IS-Sympathisantin einem Polizisten in den Hals. Sie wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt. Schon als 7-Jährige trat sie mit einem bekannten Salafisten auf. In Ludwigshafen bastelte ebenfalls 2016 ein 12-Jähriger einen Sprengsatz, versuchte diesen, letztlich erfolglos, auf dem Weihnachtsmarkt zu zünden.
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Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und seine Länderkollegen diskutierten zuletzt, auch Kinder durch den Verfassungsschutz beobachten zu lassen. Erst 2016 wurde das Mindestalter, ab dem der Geheimdienst Personen beobachten darf, von 16 auf 14 Jahre heruntergesetzt. Eine weitere Absenkung scheiterte zuletzt am SPD-Widerstand. Angesichts der jüngsten Entwicklung sei eine „vertiefte Betrachtung“ der Gruppe minderjähriger Salafisten „dringend geboten“, vereinbarten alle Innenminister.
Thomas Mücke hält wenig von den Sorgen. „Die Kinder sind Opfer, sonst nichts“, sagt der Geschäftsführer des Violence Prevention Network, auch Projektleiter in Hessen. Die Beratungsstelle betreut radikalisierte Jugendliche und deren Familien. Kein Kind fahre freiwillig in ein IS-Kampfgebiet, viele hätten dort Schreckliches erlebt, betont Mücke.
Mohamed H. selbst betreut Mückes Team nicht. „Das ist ein Fall fürs Jugendamt.“ In Hessen wird geschwiegen, wie sich nun um das Kleinkind gekümmert wird. Geregelt wurde jedenfalls das Sorgerecht für den Großvater. Eingeschaltet ist auch das Jugendamt. Und das, so betont das hessische Sozialministerium, sei auch mit Polizei und Sicherheitsbehörden vernetzt, für Präventionsangebote im Falle eines Radikalisierungsverdachts.
Mohameds Mutter Sibel H. gilt dem Verfassungsschutz als stramme Islamistin. Bereits 2013 war sie nach Syrien ausgereist. Nach dem Tod ihres ersten Mannes kehrte sie nach Deutschland zurück – um 2016, nun mit Deniz B., abermals ins IS-Gebiet zu reisen. Inzwischen befindet sie sich im Irak in Haft. So wie mehrere weitere deutsche Frauen, etliche mit Kindern. Schlagzeilen machte zuletzt etwa Lamia K., eine 50-jährige Deutschmarokkanerin, die im Januar in Bagdad zum Tode verurteilt wurde. Ihre Tochter, 21 Jahre alt, erhielt wenig später eine einjährige Haftstrafe. Auch sie soll mit Kind einsitzen: einer zweijährigen Tochter.
Kein angemessenes Umfeld
Alle deutschen Inhaftierten werden als Konsularfälle vom Auswärtigen Amt betreut, von der Botschaft in Bagdad oder dem Generalkonsulat in Erbil. Für die Mitarbeiter stehen vor allem die Kinder im Fokus. Wenn die Eltern dies wünschen, sollen diese „schnellstmöglich“ nach Deutschland geholt werden, heißt es. Der Fall Mohamed H. ist nun ein erster Durchbruch. Weitere Verhandlungen mit den irakischen Behörden laufen.
„Der Aufenthalt in einem Frauengefängnis ist für Kleinkinder kein angemessenes Umfeld“, betont auch eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums. Von den Kleinkindern gehe ersichtlich keine Gefahr aus. „Hier geht es primär um das Kindeswohl.“ Gleichwohl, so die Sprecherin, seien die Sicherheitsbehörden in die Rückkehrgespräche „selbstverständlich“ eingebunden.
Die Frage bleibt: Was geschieht mit den Kindern, wenn sie in Deutschland sind? Im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum aller Sicherheitsbehörden kümmert sich eine eigene Arbeitsgruppe „Deradikalisierung“ um diese Frage, unter dem Label „dschihadistische Sozialisation“. Die Polizisten und Geheimdienstler suchen nach Ansätzen, Radikalisierungen früh zu erkennen. Gesetzt wird vor allem auf diejenigen, die Auffälligkeiten als Erste bemerken: Eltern, Lehrer, Sporttrainer. Und sich dann hoffentlich bei den Behörden melden.
Gleichzeitig betreut beim Bundesamt für Migration eine Beratungsstelle „Radikalisierung“ Rückkehrer aller Altersstufen – sofern diese dafür offen sind. Ziel sei es, wieder eine Beziehung zwischen den Ausgereisten und ihren Familien herzustellen, heißt es dort. Auch die obersten Jugend- und Sozialbehörden der Länder richteten zuletzt eine Arbeitsgruppe zum Umgang mit „islamistisch radikalisierten Familien“ ein.
Überwacht vom Verfassungsschutz?
In Ludwigshafen ist man da schon in der Praxis: Dort betreut man seit dem gescheiterten Anschlagsversuch den inzwischen 13-jährigen Täter – strafmündig ist er nicht. Inzwischen befinde sich der Junge außerhalb Ludwigshafens, an einem „geschützten Ort“, teilt die Stadt mit.
Pädagogen betreuten ihn intensiv, mit einem genauen Hilfeplan. „Sein Verhalten gegenüber seinem Umfeld hat sich deutlich verändert“, sagt eine Sprecherin. Er öffne sich Betreuern, interessiere sich für Sport und Kochen. „Es scheint so, dass sich seine Einstellungen normalisieren.“ Auch seine Familie sei „sehr kooperativ“.
Die Stadt stimmt aber auch alle Maßnahmen für den Teenager weiter mit den Sicherheitsbehörden ab. Ein Sicherheitsdienst bewachte anfangs dessen Unterkunft. Der Verfassungsschutz indes darf den 13-Jährigen nicht im Auge behalten. Noch nicht.
Denn Bayern treibt im Bundesrat die Initiative voran, auch Kinder zu überwachen. Wüssten die Behörden von einem 12-jährigen Islamisten, „können sie doch nicht einfach den Kopf in den Sand stecken und einen Anschlag riskieren“, sagt CSU-Innenminister Joachim Herrmann. In Bayern ist die Altersgrenze bereits gefallen. Herrmann rät „ganz dringend“, auch bundesweit nachzuziehen.
Thomas Mücke lehnt die Forderung ab. „Werden Kinder islamistisch auffällig, müssen Sozialämter und Therapeuten ran, nicht Geheimdienste. Dann liegen meist Störungen vor.“ Vieles werde nur nachgeplappert. „Kinder handeln nicht als ideologische Überzeugungstäter.“
Ein Stigma wäre gefährlich
Für die Rückkehrerkinder sei eine Traumatherapie wichtig – und ein stabiles, ideologiefreies Umfeld, notfalls auch, indem sie aus Familien genommen werden, betont Mücke. Er ist optimistisch: „Das kann man in dem Alter wieder hinbekommen.“ Entscheidend sei aber auch, wie die Gesellschaft reagiert. „Ein Stigma für die Kinder als Terrorverdächtige wäre ganz gefährlich.“
Mohamed H. hat sein sicheres Umfeld jetzt, bei seinem Großvater. Was aber, wenn seine Eltern ebenfalls nach Deutschland zurückkehren? Werden sie ihn wieder zu sich holen? Welches Weltbild werden sie ihm vermitteln? Die Behörden werden dann wieder vor neuen Herausforderungen stehen.
Noch indes steht das in weiter Ferne. Denn die Devise der deutschen Behörden lautet: Die erwachsenen IS-Verdächtigen sollen sich vorerst den Gerichten vor Ort stellen. Nur bei Todesstrafen wird interveniert. Anders als die Kinder hätten die Erwachsenen gewusst, was sie taten, als sie ausreisten, lautet die Leitlinie. Nun sollen sie dafür auch die Verantwortung übernehmen.
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