Kinder und Jugendliche: Die vernachlässigte Minderheit
Die Bundesrepublik ignoriert junge Menschen. Diese Politik ist nicht zukunftsfähig, sagt der Soziologe Aladin El-Mafaalani.
![Säulen und Mauern vor dem Eingang des Reichstgasgebäudes in Berlin, auf einer Mauer sitzen junge Frauen Säulen und Mauern vor dem Eingang des Reichstgasgebäudes in Berlin, auf einer Mauer sitzen junge Frauen](https://taz.de/picture/7537303/14/Bundestagswahl-1.jpeg)
G erade sieht es aus, als würde bei der anstehenden Bundestagswahl die Linkspartei bei jungen Leuten überraschend gut abschneiden. Bei der Europawahl davor war die AfD der Gewinner bei den Jungen. 16 Prozent der 16- bis 24-Jährigen hatten für die Rechtspopulisten gestimmt. Damals gehörte ich zu den Kurzdenkern, die sofort rumgrölten, ob diese Honks nicht ganz dicht seien und was denn bei denen falsch laufe.
Darüber habe ich gerade mit dem Dortmunder Soziologen Aladin El-Mafaalani für die kommende Ausgabe von taz FUTURZWEI gesprochen. Er hat mit den Kollegen Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier ein spektakuläres Buch geschrieben mit dem Titel „Kinder – Minderheit ohne Schutz“. El-Mafaalani sagt, wir sollten eher mal fragen, was bei uns falsch läuft.
Paraphrasiert auf den Punkt gebracht sagt er: „Die Jungen“, was ich hier benutze für ein generationelles Grundgefühl der Unter-30-Jährigen, haben den Eindruck, dass Politik und Gesellschaft sich nicht um sie scheren und die „Erwachsenen“, Lehrer, Eltern, Politiker, wenig bis nichts mehr auf die Reihe kriegen. Darauf reagieren sie mit ihrer Stimme. Vor der letzten Bundestagswahl dachten die 18–24-Jährigen noch, dass die etwas frischer scheinenden Parteien, Die Grünen und FDP, „etwas“ positiv verändern würden.
Durch die Erfahrung mit der Ampel-Koalition oder deren medialer Vermittlung ließen sie von dieser Hoffnung ab, und eine Reihe wählte dann AfD, damit sich was ändere oder damit die anderen merkten, dass sie nicht einverstanden waren damit, wie es läuft beziehungsweise an ihnen vorbei läuft. Ähnlich mag es nun mit dem Schielen zur programmatisch systemoppositionellen Linkspartei sein.
Junge Menschen werden immer weniger
Nun kann man El-Mafaalani und Kollegen sehr gut belegt entnehmen, dass sich Politik und Gesellschaft tatsächlich nicht um Kinder und Jugendliche scheren. Sie sind sogar die vernachlässigste Minderheit der bundesdeutschen Gesellschaft und „strukturell diskriminiert“.
Ein wichtiger Grund: Sie werden im Verhältnis der Gesamtgesellschaft immer weniger, derzeit sind 13 Prozent der Wahlberechtigten unter 30, schon bei den übernächsten Wahlen werden die Rentner in der Mehrheit sein, weshalb ihr politischer Einfluss, der jetzt schon groß ist, künftig weiter zuzunehmen droht. Schlicht, weil sie Wahlen entscheiden und Parteien Wahlen gewinnen wollen oder müssen und sich entsprechend orientieren.
Nun wurde schon in den guten Jahren der Bundesrepublik nicht vorgesorgt, sondern alles im Jetzt ausgegeben und eine Zukunfts-Infrastruktur weitgehend ignoriert (Bahn, Straßen, Brücken, Schulen, Bundeswehr und so weiter). Wenn jetzt nicht einmal mehr Leute, die den Karren ziehen oder ziehen müssen, sondern Leute, die selbst keine Zukunft mehr haben, Politik entscheiden, dann schwindet – no offense, das ist einfach so – der Zukunftsbezug weiter.
Es gibt schon auch Fortschritt, es gibt eine andere Sensibilität für Kinder, es gibt ein Bewusstsein, wie toll und wichtig sie sind, aber das ersetzt keine Politik und auch keine zukunftstaugliche Bildungsinfrastruktur. Die gern verhöhnten „Helikoptereltern“ sind so gesehen auch nur ein Ressentiment, das vom wahren Problem ablenkt.
„Klar, mein Kind über alles, das gibt es sicher, aber das ist ein krasses Randphänomen“, sagt El-Mafaalani. „Was wir tatsächlich haben, sind sehr besorgte Eltern, die wahrnehmen, dass das System nicht funktioniert und ihr Kind keine Räume mehr hat, wo es sich frei bewegen kann.“ Insgesamt werden Kinder immer weniger, ihre Räume kleiner und ihre Ausbildung schlechter. „Die Institutionen, die vorher gekriselt haben, haben nun komplette Aussetzer“, sagt El-Mafaalani.
Und das Zentrale ist: Das betrifft nicht nur Kinder aus deprivilegierten Haushalten, es betrifft alle Kinder. Nun wird man sagen: Ja gut, aber die einen haben es noch schwieriger, die anderen werden von ihren solventen Eltern durchgezogen. El-Mafaalani sagt: Ja, aber gleichzeitig schlagen alle gesellschaftlichen Krisen und Veränderungen in Kindheit und Jugend klassenunabhängig durch.
Er belegt dies am Jahrgang 2007, der dieses Jahr 18 wird und prägende gemeinsame Krisenerfahrungen gemacht habe, von der Flüchtlingskrise über die Pandemie-Jahre zum russischen Angriffskrieg und seinen Folgen. Diese Kinder haben das alles oder vieles davon im Alltag und psychisch voll abgekriegt.
Die vollen Klassen, die fremdgenutzten Turnhallen, der ausgefallene Unterricht, die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Manche Jahrgänge hätten in der heiklen Teenie-Phase einen „Fullstop verpasst“ bekommen. Die Auswirkungen der Erfahrung von völlig überforderten Lehrer und Eltern während der Pandemie sind noch gar nicht abzusehen.
„Was wir übersehen, ist diese prägende Kraft der Orientierungslosigkeit, wenn das in Kindheit und Jugend passiert, dieses Gefühl, nichts funktioniert richtig. Und kaum jemand hat wirklich die Zukunft im Blick.“ Da geht auch Vertrauen verloren, dass alles schon werden wird und die Erwachsenen wissen, was sie tun. „Für junge Leute ist es ein Running Gag, dass die Erwachsenen sich verrückt verhalten“, sagt El-Mafaalani.
Es geht um Lebensgrundlagen
So gesehen war es der Zynismus des Jahrhunderts, als bestimmte Politiker, in der Regel von Union und FDP, zu den Kindern und Jugendlichen sagten, die mit Fridays for Future für Zukunftspolitik streikten, sie sollten gefälligst statt zur Demo in die Schule gehen, damit mal was aus ihnen werde.
Es ist aber bis heute auch aufgeklärt sein wollenden Teilen der Gesellschaft nicht klar genug, dass es bei den Streiks nicht allein um den Schutz des „Klimas“ ging, sondern um die Einforderung von Politik für die Lebensgrundlagen von Menschen, die nicht in den nächsten zehn, zwanzig Jahren sterben, sondern bis ins 22. Jahrhundert leben, wenn sie Glück oder Pech haben, je nach dem.
Es fehlt da offenbar an Problembewusstsein und vor allem an Lösungsideen, vermutlich auch, weil viele Probleme in der Kinderignoranz verschränkt sind und nicht im alten Politikportfolio der Parteien und auch nicht im Links-Rechts-Schema zu denken ist.
Überhaupt ist der Zukunftsbezug nicht links-rechts oder nur klassisch emanzipatorisch oder in Ressortzuständigkeiten zu denken, so sehr sich das manche auch wünschten. Fridays for Future stehen demnach nicht für eine „aktivistische Klimabewegung“ oder das angeblich selbstbezogene Differenzbegehren privilegierter Bürgerschnupsis, sondern für ein generationelles Verlangen nach politischer Repräsentation.
„Ich glaube, es gibt eine Art moralische Einheit, die man durchaus entwickeln kann zu einer Art Minimalkonsens: dass junge Leute, Kinder, ein übergreifendes und gemeinschaftliches Interesse daran haben, dass ihre Zukunft geschützt wird“, sagt Luisa Neubauer, die Co-Initiatorin von FFF in Deutschland war und die meistgehörte Stimme der Unter-30-Jährigen ist.
Weil die handelsüblichen Formate wie Demos, Rumschreien, Festkleben, Hungern zwar weiter für mediengesellschaftliche Aufmerksamkeit und Polarisierung gut sind, aber keine Methoden einer Veränderung im Sinne der Jungen, schlägt El-Mafaalani einen Zukunftsrat von Unter-30-Jährigen vor, den Parlamente zwingend hören müssen, bevor sie Entscheidungen treffen.
Die Boomer müssen ran
Zweiter und sicher noch kontroverserer Vorschlag: Die Boomer müssen ran. Statt auf Kreuzfahrten zu gehen und was man so macht, wenn man im Alter noch was macht, sollten sie sich engagieren im dysfunktionalen Erziehungssystem.
Ist das realistisch? „Die Boomer leben ja nicht auf einer Insel der Glückseeligen“, sagt El-Mafaalani,. „Nehmen Sie eine Person, die 66 ist und in Rente geht. Sie weiß, dass es jetzt schon einen Pflegenotstand gibt. Und wie der Bundeshaushalt aussieht und wie viel davon für die Renten ausgegeben wird. Zumal es von dieser kleinen Gruppe junger Menschen abhängt, wie gut ich selbst im Alter leben werde, wie die Wirtschaftskraft sein wird und, und, und.“
Die Idee ist: Rentner könnten in unterschiedlichen Zuständigkeiten halbtags oder ehrenamtlich mit Kindern weiterarbeiten. Wenn nur jeder zehnte Boomer mitmache, dann seien das mehr als alle Erzieherinnen und Grundschullehrer zusammen. Ziel ist es, die Räume und Bezugspersonen von Kinder zu erhöhen und die Leerstelle zwischen Eltern und Lehrern zu füllen.
Ohne Kinder keine Zukunft
Das alles ist nicht nur zum Wohle der Kinder notwendig, sondern zum Erhalt von Wohlstand, Demokratie und Renten. Wenn die wenigen Jungen auch noch schlecht ausgebildet und desillusioniert und nicht in der Lage sind, die durch das Gegenwartsversagen eskalierenden Probleme anzugehen, dann können wir den Laden Bundesrepublik dichtmachen.
Im Grunde ist es simpel: Ohne Kinder keine Zukunft und ohne Politik mit Kindern im Zentrum auch nicht. „Kinder sind der letzte Sinn und die einzige Zukunft der Gesellschaft“, heißt es bei El-Mafaalani. Und das ist nicht pathetisch, das ist einfach so.
Die Mehrheiten der Gesellschaft sind aber im Hier und Jetzt, vermutlich wird das Bedürfnis nach dem Verweilen im radikal Bröckelnden noch zunehmen, wenn der Verteilungskampf im Heute richtig losgeht. Wie kriegt man unter diesen Umständen einen kulturell und institutionell verankerten Zukunftsbezug? Das ist die Frage, der sich alle jene methodisch verschreiben müssen, denen die Zukunft ihrer Kinder tatsächlich nicht am Arsch vorbei geht.
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