Kinder im Ukrainekrieg: „Mama, wann ist der Krieg zu Ende?“
Wie kann man den eigenen Kindern erklären, warum die russischen Invasoren noch da sind? Erfahrungen aus Odessa.
V or dem Einschlafen kommen diese Fragen, die zu beantworten mir besonders schwer fallen: „Mama, wann können wir mal wieder unsere Freunde besuchen?“ „Mama, wann ist der Krieg zu Ende?“ „Mama, wann kann ich mich zum Schlafengehen endlich wieder ausziehen?“ Seit Kriegsbeginn schlafen wir in unserer Kleidung. Weil es auch während der Nacht Luftalarm gibt und man schnell in den Schutzraum muss.
Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.
Tagsüber verhalten sich meine Söhne wie früher. Sie spielen, füttern Tiere, haben immer ein Stückchen Wurst für die Hunde und Katzen der Nachbarschaft in der Tasche. Aber bei Sonnenuntergang kann ich sehen, wie ihre Augen sich mit Angst und Hoffnungslosigkeit füllen, wie sie versuchen, sich erwachsen zu benehmen, aber gleichzeitig mit den Tränen kämpfen. „Mama, warum gehen die nicht weg?“, „Mama, ich will, dass das Böse stirbt.“ Meine Kinder – aufgewachsen mit Märchen über das Gute und das Böse – wissen, dass Krieg das Böse in Reinform ist, dass die, die diesen Krieg begonnen haben, böse Menschen sind.
Bis Kriegsbeginn haben wir wegen Covid-19 zwei Jahre mehr oder weniger isoliert gelebt. Vorm Schlafengehen habe ich mir für sie Geschichten darüber ausgedacht, wie Wale im Weltraum herumreisen, wie Wal-Astronauten Hindernisse überwinden müssen, wie sie Freunde finden. Jetzt kann ich mir nicht mal mehr Geschichten ausdenken. Es ist, als wäre ich selber vermint, ich muss gut aufpassen, nicht zu detonieren, weil meine Druckwellen auch sie treffen würden.
Ich weiß genau, dass Kinder Erwachsene beobachten und von ihnen lernen. Darum bemühe ich mich sehr zu lächeln, mir Ablenkungen auszudenken, ihnen beim Lernen zu helfen. Aber sobald ich aufhöre, um selber mal ein bisschen durchzuatmen, höre ich: „Mama, die bringen dich doch nicht bei deiner Arbeit um, oder? Und Oma?“ Ich bin Journalistin. Meine Mama – ihre Großmutter – ist bei der Polizei. „Nein, meine Lieblinge, die bringen uns nicht um …“
ist Chefredakteurin des ukrainischen Nachrichtendienstes USI.online. Sie ist Mutter von zwei Kinder (9 und 12).
„Mama, warum sprechen wir eigentlich Russisch?“
An den Schulen in Odessa haben die Ferien begonnen. Die Jungs haben über Videocalls mit ihren Lehrern und Mitschülern geredet, sie haben sich versprochen, sich im September wiederzusehen. Es ist schwierig, über solch einen langen Zeitraum hinweg zu planen. Unsere Pläne reichen eigentlich nicht weiter als ein paar Minuten.
Und diese Minuten versuchen wir in guter Stimmung zu verbringen, trotz allem. Wir sind aus der Stadt an einen sichereren Ort gezogen, unsere Wohnung lag in der Nähe des Flughafens. Am Stadtrand gehen wir angeln. Aber selbst dort drehen sich alle Gespräche um den Krieg: „Mama, warum sprechen wir eigentlich Russisch? Ich will nicht, dass die denken, ich sei Russe. Ich bin doch Ukrainer!“, „Mama, warum ist das Böse immer noch nicht tot? Wir sind doch die Guten …“
Was ich wirklich überhaupt nicht will, ist, mit den Kindern über den Tod zu sprechen, aber ich wünsche mir auch, dass das Böse stirbt. Wie man mit all dem umgeht, weiß ich nicht. Kein Lehrbuch, kein Psychologe hat darauf eine Antwort. Seit drei Kriegsmonaten beantworte ich alle Fragen meiner Kinder intuitiv, nehme sie fest in den Arm – und verspreche, dass ich zum Kriegsende ein Buch mit den Märchen herausgebe, die ich mit ihnen in dieser schweren Zeit geschrieben habe.
In diesem Buch wird das Böse bestraft und die, die zum Fortgehen gezwungen wurden, können nach Hause zurück.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
Einen Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA im September als Dokumentation heraus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Parteitag der CDU im Hochsauerlandkreis
Der Merz im Schafspelz
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden