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Keine LandidylleDes Wahnsinns schuppiges Haupt

Vor den multiidiotischen Horden ist man nicht einmal im Ökodorf sicher. Entspannter spaziert es sich über die verwaiste Oranienstraße.

Sommer in Brodowin Foto: Lars Reimann/imago

W eil ja im Frühjahr alle corona-klaustrophobe Stadtflucht betrieben und sich auf die letzten freien Butzen am See gestürzt haben wie die Fliegen auf die Kakahaufen, treffe ich mittlerweile mehr Freunde in unserer Bungalowsiedlung in der Uckermark als in Berlin.

In der Stadt wohnen wir zwar alle innerhalb eines 1-Kilometer-Rings, aber sehen tun wir uns an der schilfgesäumten Badestelle am Oberuckersee. Dort besiedeln die Kinder in wühligen Rotten die Donut-Schwimmringe, Float-Sessel und Stand-up-Boards, während wir Erwachsenen Kaffee auf Bänken trinken, treudoof Papierzeitungen mit uns herumtragen und uns über Akku-Heckenscheren und Bodenlacke unterhalten.

Wenn die Boards wieder freigegeben werden, weil die Kinder sich lärmend auf Kletterbäume und Sandgruben verlegen, paddeln wir Erwachsenen in meditativer Ergebenheit über die glitzernd im Spätsommerlicht liegende Wasserfläche, halten Zukunftssorge und Gegenwartsschrecken in ausbalanciertem Gleichgewicht und die Gruseldemo in der Stadt auf dem vielbeschworenen 100-Kilometer-Abstand.

Später beim Veggie-Wurst-Grillen diskutieren wir, wie man den multiidiotischen Horden vor dem Reichstagsgebäude wohl sinnvoll entgegentreten könnte. Ergebnis: irgendwie gar nicht. Darauf stoßen wir an, das Bayrisch Helle in den leicht zitternden Händen. Und erzählen von der Familie, mit der wir im Urlaub in Brodowin ums Stockbrotfeuer standen.

Bange Gewissheiten

Aus Sachsen-Anhalt waren sie ohne Auto angereist, hatten für drei Wochen alles ganz puristisch in Fahrradtaschen mitgebracht, wir waren beeindruckt. Er Consultant, sie Juristin, interessant, die Kombi. Aha, Homöopathie-Fans. Ah, oh, eher doch ausgeprägte Schulmedizin-Skeptiker, nein, radikale Impfgegner gar. Denn: Ließen die in Impfstoffen enthaltenen Metalle unsere Kinder nicht mit biopolitischem Vorsatz verdummen? Habe sich die Politik jemals um die Gesundheit der Menschen geschert? Sei Corona nicht ein planvoll eingerichtetes Scheinszenario, um ebendieses Geld und ebendiese Macht in den Händen der 600 Familien, die das Weltgeschehen …

Da standen wir schön blöd im Ökodorf vor der Feuerschale und hatten bange Gewissheit: Der Wahnsinn erhebt überall sein schuppiges Haupt.

Als Kontrastprogramm zurück in der Stadt dann der Abendspaziergang einmal die Oranienstraße hoch und runter. Auch für einen Montagabend ist es irre leer. Die innen liegenden Gasträume von Restaurants und Bars: leer. Etablissements, die laut Tafel „till late“ aufhaben, sind um 10 Uhr schon zu. Im Schaukasten des SO36 hängt das Programm vom März 2019, quer darüber klebt ein Papierstreifen – ALLES ABGESAGT –, über der verwaisten Tür erinnert ein Transparent an die Ermordeten von Hanau. Nur einer der Spätis hat es offenbar geschafft, zum Nachtlebenmagneten für junge Leute zu avancieren.

Alle anderen Späti-Betreiber lehnen untätig vor ihren frisch renovierten Läden an der Hauswand und stieren ins Leere. Der Busfahrer des M29 bremst mitten auf dem stillen Heinrichplatz, hupt los und brüllt wild gestikulierend aus dem Busfenster heraus: „Ali! Ali! Murat!!!“ Endlich bemerken ihn die Buddys, die noch vor dem Bateau Ivre sitzen, und winken laut johlend zurück. Die zwei versprengten und stark in die Jahre gekommenen Rockabillies vor dem Tiki Heart sprechen Schwäbisch, der Mann mit dem Hoodie, dem Gel in den Haaren und dem wohlfrisierten schwarzen Vollbart sagt an der roten Ampel zu mir: „Komm, jehn wa, da könn' wa sonst lange warten!“

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Kirsten Riesselmann
Autorin & Übersetzerin
Jahrgang 1976. Studierte Kulturwissenschaftlerin und ausgebildete Redakteurin (Berliner Journalistenschule). taz-Redakteurin von 2005-2008 (Berlin Kultur). Freie Autorin und Journalistin (u.a. für taz, Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Spex), Kolumnistin (v.a. taz), Redakteurin (u.a. fürs Goethe Institut). Übersetzerin von Sachbüchern und Belletristik aus dem Englischen. Schwerpunkte: Popkultur, Feminismus, politischer Essay, kritische Reportage, Graphic Novels, Literatur, Krimis.
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3 Kommentare

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  • Gefühlt lieber zum Kontrastprogramm inner Stadt.



    Lieber sonne Sätze...„Komm, jehn wa, da könn' wa sonst lange warten!“...



    als das schuppige Haupt des Wahnsinns anner Feuerschale zu erleben.



    Die irre Leere vergeht irgendwann aber der Wahnsinn bleibt!



    Is det nich furchtbar!

  • Tja - Wat wiss maaken - Shits ins Bett - 😱 -



    Shiits ins Laaken - 👹 -

    kurz - Mit Gruhl - am Pfuhl.

    Na Mahlzeit

    unterm——- Durchmischt & Gesetz! der Entropie



    de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Gruhl



    & Däh - Ach was!



    “… Der Wert des Gemisches sinke „mit zunehmender Durchmischung“.



    Auf Einwände, ob das nicht der These vom „unwerten Leben“ ähnlich sei, meinte Gruhl: „Das ist ein Gesetz der Entropie, das wir besonders in der Ökologie haben, und dieses Gesetz gilt auch für menschliche Kulturen“.[20] - ebenda

    So geht’s halt gern mal

  • Komm doch, ick hab keene Angst vor dir, oder wat?



    Wir säen paar Vorurteile und gucken mal was aufgeht.