Kein Geld für Beratung in Abschiebehaft: Ohne Infos keine Chance
Niedersachsen streicht die Förderung für Beratungen für Abschiebungsgefangene. Das Projekt brachte rechtswidrige Haft-Anordnungen ans Licht.
„Es erweckt den Anschein, als wolle man rechtswidrige Entscheidungen nicht aufgedeckt sehen“, sagt Öztürkyilmaz. Das Projekt sei sehr erfolgreich. Fast alle Gefangenen hätten die Beratung des Flüchtlingsrates in der Abschiebungshaft in Anspruch genommen. Viele wehrten sich dann vor Gericht gegen die Inhaftierung.
Der Flüchtlingsrat hat bisher die Beratungen eines Jahres ausgewertet: Zwischen dem 1. August 2016 und dem 31. Juli 2017 ließen sich 205 Menschen aus 36 unterschiedlichen Herkunftsländern beraten. In 124 Fällen hätten die Betroffenen Rechtsmittel gegen die Anordnung der Abschiebungshaft eingelegt. Und in 54 dieser Verfahren hätten Gerichte entschieden, dass die Abschiebungshaft rechtswidrig gewesen sei. Das sind knapp 44 Prozent.
Mängel im System
Bezieht man sich auf die insgesamt 205 Menschen, die der Flüchtlingsrat beraten hat, waren immerhin noch 26 Prozent der Anordnungen zur Abschiebungshaft rechtswidrig.
Öztürkyilmaz findet das „beschämend“. Bei der Abschiebungshaft gebe es systemische Mängel: „Es kann keiner sagen, hier hatte nur ein Richter mal einen schlechten Tag.“ Das Problem existiere bundesweit. Auch in Niedersachsen müssten sich die entscheidenden Stellen nun die Frage stellen, wie es dazu kommen könne, dass es so viele rechtswidrige Entscheidungen gebe. Die Konsequenz müsse sein, das Beratungsprojekt des Flüchtlingsrates auszubauen und nicht die Finanzierung zu streichen, sagt Öztürkyilmaz.
Abschiebegefangene aus Niedersachsen sind in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Langenhagen untergebracht. Derzeit sind es 27 Männer und vier Frauen.
Die Zahl der Inhaftierten in der JVA ist gestiegen. Im Jahr 2016 waren es 214 Menschen und 2017 schon 435 Menschen.
Die Staatsanwaltschaft Hannover ermittelt wegen Vorwürfen, Mitarbeiter hätten Geflüchtete geschlagen, beleidigt und WC-Besuche verwehrt. Bisher habe sich das nicht erhärtet, sagt eine Sprecherin.
Das Justizministerium nennt einen anderen Grund für das Ende der Finanzierung: „Das Projekt der unabhängigen Beratung war von vornherein zeitlich befristet“, sagt Ministeriumssprecher Christian Lauenstein. Wie schon vor Projektbeginn hätten die Mitarbeiter des Flüchtlingsrates die Möglichkeit, inhaftierte Geflüchtete zu besuchen und zu beraten. Die 50.000 Euro jährlich, von denen der Flüchtlingsrat etwa einen Mitarbeiter mit einer 75-Prozent-Stelle und Dolmetscher bezahlt, wird es allerdings nicht mehr geben.
Die Abschiebungsgefangenen könnten jedoch Verfahrenskostenhilfe beantragen und sich von einem Rechtsanwalt beraten lassen, sagt Lauenstein. So schreibt es auch das Aufenthaltsgesetz vor. „Abschiebungsgefangene sind über ihre Rechte und Pflichten und über die in der Einrichtung geltenden Regeln zu informieren“, heißt es dort. Die EU hatte ihren Mitgliedsstaaten diesen Passus vorgegeben, genau wie die Verpflichtung zur Prozesskostenhilfe.
Kritik an Streichung der Mittel
Für Abschiebungsgefangene sei es jedoch schwierig, eine solche Förderung bei einem Amtsgericht zu beantragen, während sie in Haft sind, kritisiert Öztürkyilmaz vom Flüchtlingsrat. Die Beratung in der JVA ist deutlich niedrigschwelliger.
Kritik an der Streichung der Finanzierung kommt auch von den Grünen. „Die rot-schwarze Abrissbirne trifft mit diesem rot-grünen Projekt einen weiteren Baustein der menschenrechtsorientierten Flüchtlingspolitik“, sagt der Landtagsabgeordnete Belit Onay. Es sei „in einem Rechtsstaat absolut erstrebenswert“, wenn die Beratung dazu beitrage, in diversen Fällen eine Haft zu verkürzen oder aufzuheben.
Das sei aber „offenbar nicht mehr erwünscht“, sagt Onay in Richtung der neuen Justizministerin Barbara Havliza (CDU). „Stattdessen scheint die Landesregierung die enorme Fehlerquote von 44 Prozent bei gerichtlichen Abschiebungshaftentscheidungen als willkommenes Mittel zur Abschiebungsbeschleunigung zu sehen.“
Die Grünen wollen zu dem Thema nun eine Anfrage stellen. Die offenen Fragen: Gibt es Möglichkeiten, dass die Beratung doch fortgesetzt wird? Und was tut die Landesregierung gegen rechtswidrige Inhaftierungen?
Der Flüchtlingsrat hat nun die Landesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen angesprochen, um ohne staatliche Hilfe Gelder zusammen zu bekommen. „Bis zum 31. Juli wird das aber nicht klappen“, sagt Öztürkyilmaz. Möglich wäre auch, dass Ehrenamtliche die Beratung übernehmen. „Wir müssen jetzt sehen, wie und in welchem Umfang es weitergehen kann.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Menschenrechtslage im Iran
Forderung nach Abschiebestopp