Keime in Krankenhäusern: Tödliche Hygienemängel
In Kiel haben sich 31 Patienten mit multiresistenten Keimen infiziert. Die Chronik einer Krise um Ignoranz und Nachlässigkeit.
KIEL/BERLIN taz | Der Himmel über Kiel ist trüb an jenem 11. Dezember 2014. Im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein kommt ein 74-jähriger Mann in die Notfallaufnahme. Er ist ein Patient unter vielen. Der Mann, der im Türkei-Urlaub so schwer erkrankt ist, dass er bereits in einer Klinik dort behandelt werden musste, kommt in Kiel auf die internistische Intensivstation, in ein Mehrbettzimmer mit zwei anderen Patienten.
In den folgenden sechs Wochen werden in der Kieler Klinik zwölf Patienten sterben, der Türkeiurlauber sowie elf weitere. Alle sind Intensivpatienten, alle tragen einen Keim in sich, der normalerweise in der Erde und im Wasser lebt und für Gesunde harmlos ist. Doch bei abwehrgeschwächten Menschen kann er Lungenentzündungen, Wundinfektionen, Blutvergiftungen verursachen. Er ist auch deswegen so gefährlich, weil er gegen fast alle Antibiotika resistent ist: Acinetobacter baumannii.
Bis heute haben sich 31 Kieler Patienten mit dem Bakterium infiziert, Ausgang ungewiss. Die Öffentlichkeit erfährt all dies erst seit einer Woche, scheibchenweise. Klar ist: Acinetobacter baumannii hat das Universitätsklinikum in eine Krise gestürzt. Es geht dabei um Ignoranz und Nachlässigkeit im Umgang mit hygienischen Standards.
Die Öffentlichkeit wird nach einer Woche informiert – scheibchenweise
Freitag, 23. Januar. Von Toten ist nicht die Rede, als das Uniklinikum erstmals die Öffentlichkeit über Acinetobacter baumannii per Pressemitteilung informiert: „Aktuell wurde bei zwölf Patienten ein multiresistentes Bakterium nachgewiesen.“ Es folgt der kryptische Satz: „Bis auf weiteres ist der Campus Kiel von der Aufnahme künstlich beatmeter internistischer Notfallpatienten abgemeldet.“
Kurz darauf klingelt beim Kliniksprecher das Telefon: Journalisten erfahren, dass der Keim bei fünf verstorbenen Patienten nachgewiesen wurde. Starben sie an dem Keim? „Die Frage ist offen“, sagt Jens Scholz in einer eilig einberufenen Pressekonferenz. Scholz ist Vorstandsvorsitzender der Klinik, er trägt die Verantwortung. Der Keim sei weder für Besucher noch Patienten gefährlich, betont er. Er gibt sich selbstbewusst, bleibt aber Antworten schuldig: Wie viele Menschen infiziert seien? „Wir haben noch nicht nachzählen können.“ Es seien aber „mehr als 19“.
Eine weitere Infektion – auf einer ganz anderen Station
Vor Ort, auch das räumt Scholz ein, rätseln Ärzte, Pfleger und Klinikleitung bereits seit mehr als einem Monat, wie sie der Seuche Herr werden können. An Heiligabend habe die Klinik dem Kieler Gesundheitsamt gemeldet, dass bei vier Patienten multiresistente Keime vom Typ Acinetobacter baumannii gefunden worden seien. Aber: Man habe die Lage unter Kontrolle.
Wirklich?
Am Sonnabend, 3. Januar, seien die Erreger bei einem weiteren Patienten festgestellt worden, auch das räumt Scholz ein, bei einem Patienten, der auf einer ganz anderen Intensivstation des Klinikums lag. Offenbar wurde das Bakterium dorthin übertragen – am Kittel eines Arztes, an den Händen einer Pflegekraft, über ein nicht desinfiziertes Gerät. Man weiß es nicht. Bärbel Christiansen, Hygienebeauftragte des Klinikums, sagt, sie halte einen unabhängigen Ausbruch für unwahrscheinlich.
Am Freitagabend kommt der Gesundheitsausschuss des Landtags zu einer Sondersitzung im Universitätsklinikum zusammen. Die Opposition aus CDU, FDP und Piraten kritisiert, dass das Gesundheitsministerium nur Stunden vor der Öffentlichkeit informiert wurde: „Ein Unding!“, sagt der FDP-Abgeordnete und Ex-Gesundheitsminister Heiner Garg. Rolf Fischer (SPD), Staatssekretär für den Bereich Wissenschaft, schüttelt den Kopf: „Die Meldekette ist eingehalten worden.“ Das Gesundheitsamt bestätigt: Alles korrekt.
Während viele Fakten unklar sind, tobt der Kampf um Deutungshoheit
Samstag, 24. Januar. Während noch viele Fakten unklar sind, tobt in Kiel bereits der Kampf um die Deutungshoheit. Klinikchef Scholz versuche zu verharmlosen, sagt Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz der dpa. Brysch fordert, Patienten bereits bei ihrer Aufnahme ins Krankenhaus auf Keime zu testen, wie das in Holland üblich ist und an einigen deutschen Krankenhäusern mittlerweile auch: Bis das Ergebnis vorliegt, werden diese Patienten isoliert, um andere zu schützen. Schließlich gelten die Antibiotikaresistenzen in Mittelmeerländern als sehr hoch, schließlich wird vor Acinetobacter baumannii seit über 30 Jahren in der Fachliteratur gewarnt.
Vor der Presse verteidigt die Hygienebeauftragte die Fehlentscheidung ihrer Kollegen: Ein Keim-Screening sei zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht nötig gewesen, der Patient habe keine auffälligen Symptome gezeigt. Am Abend hat das Klinikum noch einmal nachgezählt. Jetzt heißt es, bei 27 Menschen sei der Keim nachgewiesen worden. Elf Infizierte seien gestorben.
Sonntag, 25. Januar. Bei neun Patienten, verkündet der Klinikchef Scholz, lasse sich „ausschließen“, dass der Keim schuld an ihrem Tod sei, bei zweien sei es unklar: Nicht immer lasse sich die Todesursache genau klären.
„Personalmangel ist Zeitmangel – der führt zu Verstößen“
Montag, 26. Januar. Die Gewerkschaft Verdi erhebt Vorwürfe: „Wenn Keime übertragen werden, sind die hygienischen Vorschriften nicht eingehalten worden“, sagt der Landesfachbereichsleiter Gesundheit, Steffen Kühhirt. Die Gründe? „Personalmangel ist Zeitmangel, und der führt zu Verstößen.“ Fast 2.000 „Gefährdungsanzeigen“ hätten Kieler Pflegekräfte und Ärzte in einem Jahr abgeschickt – ein bundesweiter Spitzenwert.
In Berlin verspricht CDU-Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, die Meldepflichten bundesweit zu verschärfen. Künftig müssten die Krankenhäuser die Gesundheitsämter nicht erst bei Krankheitsausbruch, sondern schon beim ersten Nachweis eines multiresistenten Erregers informieren. Es klingt wie hilfloser Aktionismus.
In Kiel, bei der Pressekonferenz der Uniklinik am Nachmittag, wirkt Scholz angespannt. Der Personalschlüssel liege über dem Schnitt: „Daran kann nur zweifeln, wer fachfremd ist.“
Das Uniklinikum hat derweil zwei Hygieneexperten aus Frankfurt nach Kiel geholt. Ihre Einschätzung klingt schräg: Die Ansteckungen hätten vermieden werden können, wenn der Patient aus der Türkei früh isoliert worden wäre, urteilen sie. Das Krankenhaus habe dennoch korrekt gehandelt: Die wenigen Einzelzimmer auf der Intensivstation seien ja leider belegt gewesen.
Das Einmaleins der Keimbekämpfung
„Wir haben ihn als Risikopatienten behandelt“, beteuert Hygienefachfrau Christiansen nun. Den Widerspruch zu ihren früheren Mitteilungen, wonach er keine Anzeichen für einen Keimbefall gezeigt habe und daher nicht habe getestet werden müssen, vermag die Klinik auf mehrfache Nachfrage nicht aufzulösen.
Erneut sind die Zahlen gestiegen: 31 Infizierte und zwölf Tote werden jetzt gemeldet, davon drei, bei denen der Keim eine Todesursache gewesen sein könnte.
Dienstag, 27. Januar. Klaus-Dieter Zastrow mag die Rechtfertigungen aus Kiel nicht mehr hören. Zastrow ist Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene, er hat das kleine Einmaleins der Keimbekämpfung so oft erklärt, in Vorträgen, auf Schulungen. „Es ist wirklich nicht so schwer“, sagt er jetzt in seinem Büro in Berlin-Spandau, er klingt wie ein Lehrer, der um Geduld ringt.
Nur ein Labortest kann zeigen, ob ein Patient multiresistente Keime trägt
Wenn ein Patient nach einem Aufenthalt im Mittelmeerraum mit einer schweren Infektion in eine deutsche Klinik eingeliefert werde, sagt Zastrow, müssten wegen der bekanntlich in dieser Region hohen Antibiotikaresistenzen schon die Ärzte in der Aufnahme die richtigen Weichen stellen: Sie müssten sofort einen Abstrich mit einem Antibiogramm erstellen lassen. Das ist ein Labortest, der die Resistenz von Krankheitserregern ermittelt. Nur so lasse sich herausfinden, ob der Patient einen multiresistenten Keim mitgebracht habe und welches Medikament diesen überhaupt zu bekämpfen vermöge. „Dauert drei, maximal vier Tage“, sagt Zastrow.
Er greift nach einem vergilbten Buch auf seinem Schreibtisch, es heißt „Medizinische Mikrobiologie und Infektiologie“ erschienen im Jahr 2000, Zastrow doziert: „Acinetobacter, Therapie: nach Antibiogramm!“ Kunstpause. Dann, triumphierend: „Das ist Lehrbuchwissen!“
Und mindestens, bis der Keim nicht mehr nachweisbar sei, sei der Patient zu „i-so-lie-ren“, Zastrow dehnt die Silben wie Kaugummi. Ärzte und Pfleger müssten sich vor Betreten des Krankenzimmers die Hände 30 Sekunden lang desinfizieren und Haarschutz, Schutzkittel, Handschuhe und Mund-Nasen-Schutz anlegen. Die Patienten müssten sie täglich mit antimikrobieller Lotion waschen.
Alles desinfizieren, was der Infizierte berührt haben könnte – täglich
Alle Geräte, Instrumente, Beatmungsschläuche seien täglich penibel zu desinfizieren, ebenso der Fußboden wie alle Flächen, die die Patienten berührt haben könnten, Türklinken, Bettgestelle, Nachttische, Toilette, Fernbedienungen: „Wenn Sie das beherzigen, haben Sie zwar weiterhin Ihren einen kranken Patienten, aber der Keim kann sich nicht weiter ausbreiten.“
Was, wenn das nicht beherzigt wird?
Mittwoch, 28. Januar. „Wenn auf der Intensivstation ein Gerät piept, muss man sofort hinlaufen“, stellt die Hygienefachfrau Christiansen in Kiel vor der Presse klar. Auch ohne sich zuvor die Hände zu desinfizieren? Die Ärzteriege schaut erstaunt über diese Frage. Dass Fehler gemacht worden seien, habe doch niemand bestritten. Christiansen sagt: „Es gibt keine Sicherheit.“ Aber man lerne: Die Zahl der Einzelzimmer im Intensivbereich werde von 16 auf 60 erhöht. Und: Die Zahl der Infizierten liege unverändert bei 31 Patienten.
Mangelhaftes Wissen, Überlastung, Nachlässigkeit
„31 Patienten“, Klaus-Dieter Zastrow in Berlin-Spandau ruft es fast, „das heißt, sie haben mehr als zwei Dutzend Fehler gemacht“. Hygienefehler, schimpft er, geschuldet mangelndem Wissen, Arbeitsüberlastung, Nachlässigkeit. „Und was mich am meisten aufregt: Die Klinikleitung in Kiel versucht, es so darzustellen, dass lebensgefährdende Mängel bei der Durchführung von Hygienemaßnahmen zum Lebensrisiko dazugehören.“
Donnerstag, 28. Januar. Sieben Wochen nach dem Einzug von Acinetobacter baumannii ins Kieler Universitätsklinikum stellen sich die Hygienechefin und die Klinikdirektoren erstmals den Fragen „besorgter Patienten und Bürger“. Für den Abend laden sie in den großen Hörsaal der Chirurgie ein.
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