Katholische „Mother and Baby Homes“: Irlands Schande
Bis 1998 wurden etwa 56.000 unverheiratete schwangere Irinnen in katholische Heime eingewiesen. 9.000 Kinder starben dort laut einer Untersuchung.
Die Kommission hat in den vergangenen fünf Jahren die Daten aus „Mother and Baby Homes“, wie sie offiziell hießen, gesammelt und mit 500 Männern und Frauen, die in einem solchen Heim geboren wurden, gesprochen. Insgesamt kamen in den 76 Jahren, in denen solche Heime existierten, dort 57.000 Kinder auf die Welt.
In dem mehr als 3.000 Seiten umfassenden Abschlussbericht, der am Dienstag vorgelegt wurde, heißt es, dass die Kindersterblichkeit in den Heimen bei 15 Prozent lag – doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. In Bessborough in der Grafschaft Cork im Süden des Landes lag sie 1944 sogar bei 82 Prozent. Die Leichen von 950 Kindern, die in Dubliner Heimen gestorben waren, wurden zwischen 1922 und 1977 Universitäten für anatomische Studien zur Verfügung gestellt. Die meisten sind an Vernachlässigung gestorben oder verhungert. Überlebende aus den Heimen haben berichtet, dass sie ständig im Müll nach Essbarem gesucht haben.
In mehr als 6.000 Fällen zwischen 1950 und 1973 wurden die Babys den Müttern weggenommen und an kinderlose Paare in den USA, Großbritannien und Deutschland verkauft. Viele Babys wurden als Versuchskaninchen missbraucht. Der Pharmakonzern Burroughs Wellcome zum Beispiel probierte einen neuen Impfstoff an ihnen aus.
Ausgelöst wurde die Untersuchung durch die Historikerin Catherine Corless, die 2015 herausgefunden hatte, dass in einem Heim der Bon Secours Sisters im westirischen Tuam 796 Babys und Kinder gestorben waren, für die es keine Bestattungsnachweise gab. Später fand man die Überreste in 20 Kammern, die zum stillgelegten Abwassersystem des Heims gehörten. Sie stammten von Föten ab der 35. Schwangerschaftswoche bis hin zu Kleinkindern im Alter von zwei bis drei Jahren. Die Nonnen hielten die Kinder für „Ausgeburten des Satans“, sagte eine ehemalige Heiminsassin.
Premierminister Micheál Martin wird sich am Mittwoch im Namen der Regierung bei den Überlebenden dieser Heime entschuldigen. Ob sich die katholische Kirche, deren verschiedene Orden die Heime leiteten, ebenfalls entschuldigen wird, ist nicht klar. Immerhin haben 15 Heime kooperiert und insgesamt 60.000 Akten zur Verfügung gestellt. Die restlichen drei Heime erklärten, es gebe keine Unterlagen mehr.
Es ist bereits der sechste Untersuchungsbericht, der sich mit dem Missbrauch und der Misshandlung in katholischen Institutionen beschäftigt. In drei dieser Berichte ging es um den sexuellen Kindesmissbrauch durch Geistliche, einer handelte von den Quälereien, denen Kinder in Besserungsanstalten und Waisenhäusern ausgesetzt waren, und ein Bericht beschrieb die Verbrechen an jungen Frauen, die unverheiratet schwanger geworden oder dem Klerus zu selbstständig waren. Sie wurden in Klöstern weggesperrt und mussten für die Nonnen arbeiten.
Wie auch bei den Mütter-und-Baby-Heimen spielten die Eltern oftmals mit oder wagten es nicht, sich dem lokalen Pfarrer zu widersetzen. Die katholische Kirche hatte die irische Gesellschaft nach der Teilunabhängigkeit 1922 Stück für Stück in den Würgegriff genommen und ihre Moralvorstellungen 1937 in die Verfassung schreiben lassen. Aus Angst vor sozialer Ächtung haben 30 Frauen in den vergangenen 50 Jahren ihre toten Babys auf Feldern, an Stränden oder am Straßenrand abgelegt – das bisher letzte erst 2016, als die Kirche längst ihre Vormachtstellung eingebüßt hatte.
Teile des Berichts über die Mother and Baby Homes waren bereits am Sonntag durchgesickert, sehr zum Ärger des Ministers für Kinder, Roderic O’Gorman von der Grünen Partei. Er entschuldigte sich bei den Opfern dafür, dass sie die Einzelheiten aus der Presse erfahren mussten. Sie erhalten Einsicht in den Bericht, die Öffentlichkeit jedoch nicht, weil sowohl den Betroffenen als auch den katholischen Orden Anonymität zugesichert wurde. Andernfalls hätte kaum jemand mit der Kommission kooperiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Einigung über die Zukunft von VW
Die Sozialpartnerschaft ist vorerst gerettet
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen