Karl-Marx-Kopf in Chemnitz: Der „Nischel“ wird 50
Die DDR-Bürger:innen nahmen das als „Nischel“ verunglimpfte Vorzeigedenkmal nie richtig ernst. Der überdimensionale Kopf hat am 9. Oktober Jubiläum.
Zwar tilgten die Chemnitzer den Vordenker des Kommunismus 1990 aus dem Namen ihrer Stadt, sein Konterfei aber blieb. Es wurde zum beliebten Fotomotiv und Treffpunkt. „Der Marx-Kopf ist popkulturell adaptiert und umgedeutet worden“, konstatiert der Generaldirektor der Chemnitzer Kunstsammlungen, Frédéric Bußmann. „Damit wurde er ein Stück weit neutralisiert.“
250.000 Menschen sollen am 9. Oktober 1971 die feierliche Enthüllung des Monuments im Herzen von Karl-Marx-Stadt verfolgt haben. Zwei Tage nach dem Jahrestag der DDR lobte Staatschef Erich Honecker laut staatlicher Nachrichtenagentur ADN das Denkmal als „Symbol unseres unzerstörbaren Bruderbundes mit dem Lande Lenins“. Es gilt bis heute als zweitgrößte Porträtbüste der Welt nach dem Lenin-Kopf im sibirischen Ulan Ude.
Wurden auch vielerorts DDR-Denkmäler nach der Wiedervereinigung gestürzt, der Marx-Kopf blieb – sorgte aber für Debatten. So soll der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) gedroht haben, „künftig keine Finanzen mehr in den Osten zu schicken, wenn Chemnitz für so etwas Geld ausgibt“.
Anlass waren Pläne, das Monument per Scheinwerfer zu erleuchten. Später gab es Kritik aus der CDU, weil die Stadt mit dem Marx-Kopf warb – nicht nur als Praline und Briefbeschwerer, sondern auch mit dem Slogan „Stadt mit Köpfchen“. Angesichts einer Ideologie, die Millionen Menschen das Leben gekostet habe, seien „verharmlosende Marx-Souvenirs“ fehl am Platz, hieß es.
Tassen, Kaffee und USB-Sticks mit Marx-Kopf
Doch Souvenirs mit dem Marx-Konterfei gibt es bis heute in der Stadt reichlich zu kaufen: von Tassen und Kaffee bis hin zu Ausstechform und USB-Stick. Die örtliche Sparkasse bietet Kreditkarten sowohl mit dem Fotomotiv der Büste als auch abgewandelt im Pop-Art-Stil an. Der Marx-Kopf sei das beliebteste Bildmotiv bei den Kreditkarteninhabern, erklärte ein Sprecher des Geldinstituts. Regelmäßig gebe es auch Anfragen aus dem Ausland.
Verbal haben die Chemnitzer den riesigen Marx ohnehin vom Sockel geholt – „Nischel“ wird er in der Stadt meist nur genannt, das sächsische Wort für Kopf. Zum Denkmal-Ensemble gehört neben der Porträtbüste ein Schriftzug mit dem Marx-Zitat „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“. Es prangt in mehreren Sprachen am dahinter stehenden Gebäude, der früheren SED-Bezirkszentrale.
Zu DDR-Zeiten wurden hier große Kundgebungen am 1. Mai und 7. Oktober abgehalten. Doch hier versammelten sich im Herbst 1989 auch Menschen, um gegen die SED-Diktatur zu demonstrieren, die ihnen Jahre zuvor das Denkmal ins Herz der Stadt gepflanzt hatte.
Zigfach haben sich zudem Künstler in den vergangenen Jahrzehnten an der Büste abgearbeitet und sie ideologisch entzaubert. Mal wurde der Marx-Kopf verhüllt, mal den Menschen auf Augenhöhe gebracht, so wie in einem filmischen Kunstwerk von Olaf Nicolai, das jüngst weltweit zu sehen war. Und voriges Jahr haben die Künstlerinnen Anetta Mona Chisa und Lucia Tkácová dem Kopf des Philosophen seinen Darm im selben Maßstab von 1:24 entgegengesetzt. Für Bußmann „eine humorvolle Kritik an dieser Art von männlicher Repräsentation von Macht“. Die Skulptur „Darm“ ist keine zehn Minuten zu Fuß vom Marx-Kopf entfernt.
Regelmäßig Demos am „Nischel“
Auch demonstriert wird am „Nischel“ nach wie vor regelmäßig. 2018 gingen Bilder um die Welt, als sich dort Rechtsextreme aus ganz Deutschland versammelten. Anlass war der gewaltsame Tod eines 35-jährigen Deutschen am Rande des Stadtfestes, für den ein Syrer später zu einer Haftstrafe verurteilt wurde.
Damals kam es in der Stadt zu Ausschreitungen, von Hetzjagden auf Migranten war die Rede. Auch der Gegenprotest setzte rund um das Monument unter dem Slogan „#wirsindmehr“ Zeichen für Toleranz und Weltoffenheit. Zuletzt haben etwa Coronaleugner und Gegner der Pandemie-Maßnahmen das Areal für Kundgebungen genutzt, ebenso wie Klimaaktivisten.
Das 50-Jahre-Jubiläum feiert Chemnitz am Samstag, 9. Oktober. Dazu soll eine Stele mit Fakten zu Entstehungsgeschichte und Bedeutung des Denkmals übergeben werden. Eröffnet wird eine Ausstellung im „Open Space“ hinter dem Monument mit dem Titel „DENKmal Karl Marx – propagiert, verschmäht, vermarktet“ samt Diskussionsrunde. Und am Abend sollen verschiedene Bands die Besucher zum Tanzen und Feiern bringen. Dann ist auch eine Lichtinstallation geplant.
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