Kampf um Mariupol in der Ostukraine: Putins Kalkulationen
Der Angriff zielt womöglich darauf ab, eine Landverbindung zur Krim zu schlagen. Dort verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage zusehends.
MOSKAU taz | Kaum hatten sich die Außenminister Frankreichs, Russlands, der Ukraine und Deutschlands in Berlin auf den Abzug schweren Geräts aus der in der Minsker Vereinbarung festgelegten Pufferzone geeinigt, war die Übereinkunft schon überholt.
In Mariupol starben am Samstag nach einem Raketenangriff 30 Menschen, mehr als 90 wurden verletzt. Laut den Separatisten soll die ukrainische Armee dafür verantwortlich sein. Doch vor Ort weiß jeder, mit wem er es zu tun hat. Nach Ansicht des russischen Politologen Stanislaw Belkowskij könnte Wladimir Putin durch die Eskalation der Kämpfe in der Region den Westen zwingen wollen, direkt mit Moskau in Verhandlungen über die Ukraine einzusteigen.
Für den Präsidenten, der um Anerkennung als Supermacht ringt, dürfte es keine Schwierigkeit darstellen, die Waffenlieferungen an die sogenannten Separatisten einzustellen und diese aus der Ukraine zurückzubeordern. Daran ist dem Kreml offenbar nicht gelegen. Vielmehr scheint Putin überzeugt zu sein, dass die Ukraine in den nächsten Monaten an inneren Widersprüchen in Einzelteile zerfällt und der Westen gezwungen ist, sich mit Russland im Nachhinein zu verständigen. Dass im Vorfeld noch weitere Sanktionen verhängt werden könnten, beunruhigt Putin anscheinend nicht. Es sieht eher so aus, als kalkuliere er bewusst mit einer Mobilisierungsökonomie unter Kriegsbedingungen.
Längerfristig ließe sich damit der Bevölkerung die dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage erklären, und der Verteidiger der „russischen Welt“ könnte wohl auch noch auf einen patriotischen Bonus aus Nachsichtigkeit bauen. Der Angriff auf Mariupol könnte mehrere Zwecke erfüllen. Im Juni hatte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko die Stadt am Asowschen Meer nach schweren Kämpfen in Donezk zur provisorischen Hauptstadt des Verwaltungsgebiets Donezk erklärt.
Wirtschaftliche Auswirkungen
Verlöre die Ukraine die Stadt, wäre das ein schwerer Schlag für die Moral der ukrainischen Truppen. Außerdem verfügte Kiew am Asowschen Meer über keinen nennenswerten Hafen mehr. Das hätte vor allem wirtschaftliche Auswirkungen. Russische Beobachter vermuten unterdessen, dass der Angriff auf die ehemalige griechische Siedlung der Auftakt eines Versuchs sein könnte, zur annektierten Halbinsel Krim eine Landverbindung zu schlagen.
Bislang kontrolliert die Ukraine noch das Gebiet zwischen Mariupol und der Krim. Es sind mehrere hundert Quadratkilometer, die zwischen der Hafenstadt und der Insel liegen. Die Kräfte der Separatisten wären wohl auch überfordert, die Gebiete Cherson und Saporischschja zu erobern. Dafür wäre der Einsatz regulärer russischer Truppen erforderlich. Laut ukrainischen Quellen und Nato-Angaben sollen in den letzten Tagen auch 2.000 russische Soldaten die Grenze überquert haben.
Eine Landverbindung wird für Russland in der Krise wichtiger denn je. Denn fraglich ist, ob Moskau Gelder für die ursprünglich geplante Brücke über die Straße von Kertsch noch aufbringen kann.
Die Lage auf der Krim wird ohnehin zunehmend schwieriger. Wasser- und Stromversorgung vom ukrainischen Festland ist nur noch sporadisch gegeben. Das führt zu erheblichen Engpässen. Auch der Straßen- und Zugverkehr aus der Ukraine wurde eingestellt. Außerdem erreichen die billigeren ukrainischen Lebensmittel die Insel nicht mehr. Die Krimbewohner müssen sich an Preise gewöhnen, die noch höher sind als in Russland. Auch dies wäre ein Motiv, im Südosten der Ukraine eine Entscheidung zu suchen.
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