Kampf gegen die Magersucht: Der Feind auf dem Teller
Perfekt sein, das bedeutet für Pia dünn sein. Also beginnt sie zu hungern. Nun kämpft sie in einer Psychiatrie gegen ihre Essstörung.
Pia ist 13 Jahre alt und heißt eigentlich nicht Pia. Sie hasst Essen so sehr, dass ihre Eltern ihre Tochter der Psychiatrie anvertraut haben. „Wenn Pia nichts isst, schnürt es mir den Hals zu. Und dem Papa auch“, sagt Pias Mutter. An diesem Tag darf Frau Orth ihre Tochter im Klinikum Christophsbad Göppingen besuchen, eine Stunde entfernt von Stuttgart; auch ihr Name ist geändert. Oft ringt die Mutter beim Sprechen um Atem.
Die Stimme der Magersüchtigen klingt müde, als sie in einem Therapiezimmer beginnt, vom Alltag auf der Station zu erzählen. Essenspläne und Sportverbot. Das Handy gibt es nur 30 Minuten am Tag. Ihre Familie darf sie nur selten besuchen.
Zweimal in der Woche kämpft sie auf der Station gegen die Anorexie in Einzel- und Gruppentherapie an. Auch im Afrika-Zimmer. Ein bunt bemaltes Transparent hängt dort an der Wand, es zeigt eine Savanne. In einer mit weißen Fliesen verputzten Ecke ist ein Waschbecken zum Desinfizieren montiert. Eine schwarze Wanduhr gibt die Zeit an. Ohne den knallig gelben Sonnenuntergang auf dem Transparent könnte der Raum nicht ernster wirken. Genauso wie die metallenen Stufen, die hoch zur Station im ersten Stock der Klinik führen.
Ein Viertel der Betroffenen überlebt die Magersucht nicht
Bei ihrer Einlieferung unterschreibt Pia einen Vertrag mit der Klinik. Sieben Kilo muss sie zunehmen. „Ich kann jetzt verstehen, dass das Hungern unsinnig ist. Aber ich kann mein Verhalten damals schon noch verstehen“, sagt Pia unsicher.
Der Hälfte aller Patienten mit Anorexie kann dauerhaft geholfen werden, sagt der behandelnde Chefarzt Dr. Markus Löble. Er kennt die Statistik gut. Auch die dunklen Zahlen: Ein Viertel überlebt die Magersucht nicht. Ein weiteres Viertel der meist weiblichen Patienten hat ein Leben lang Probleme mit der Sucht.
Vor dem vielen Reden in der Psychiatrie war die Schülerin fest davon überzeugt, dass sie Essen nicht verdient hat. Richtig erklären kann sie sich das auch jetzt nicht. Eigentlich wollte sie zu Hause nur ein bisschen ordentlicher sein. So wie die große Schwester, die ihr Zimmer immer schön aufgeräumt hat. Schon immer war Pia mit eine der Klassenbesten. Eine Perfektionistin. Selbst als sie nur noch knapp 40 Kilogramm wiegt, schreibt sie Bestnoten. In ihrer Handschrift steckt dieselbe Sorgfalt wie in ihrem Pferdeschwanz. Ihre Vorstellung von Perfektion setzt Pia gegen ihre Familie durch. Solange, bis es krank wird.
Pia liest sich Tipps zum Abnehmen aus Fernsehzeitschriften und der Bravo an. Treibt zehn Stunden Sport pro Woche. Ihre Freundinnen sind besorgt. Doch sie wollen keinen Streit anfangen. In der Klinik ist am Kopfende ihres Betts ein Foto mit ihrer Fußballmannschaft. Auch hier trägt sie die Haare zurückgebunden. Dunkle Augenbrauen stechen aus ihrem fahlen Gesicht hervor. Die Anorexie ist ihr anzusehen. Anders als früher hilft ihr der Perfektionismus jetzt in der Psychiatrie. Sie erfüllt die Bedingungen und nimmt genau sieben Kilo zu.
Salatblätter auf dem Teller zurecht schieben
Aber sie weiß noch genau, wie es sich damals anfühlte, sich gegen das Essen zu wehren. Wie sie Salatblätter auf dem Teller so zurecht schieben muss, dass es nach einer großen Mahlzeit aussieht; Kokosnussöl statt normalem Öl zu benutzen; heiße Milch statt Kakao zu trinken; noch lieber heiße Milch statt einer Mahlzeit zu trinken. „Das Essen war für mich so ein krasser Feind. Es war die Hölle“, sagt Pia.
Als sie ihre Mitpatienten dann das erste Mal beim Frühstücken beobachtet, ist sie verwirrt. Sie kann nicht glauben, dass die anderen wirklich so viel essen und dabei nicht zunehmen. Sie selbst trinkt da noch Fresubin. Eine Trinknahrung die 300 Kalorien enthält. Heute beim Frühstück kümmert sie sich ganz selbstverständlich um die Einhaltung ihres Essplans.
Die gedeckte Tafel grenzt an den dämmerig beleuchteten Stationsflur. Ein Junge löst neben dem Essen Rätsel, die ihm ein Betreuer stellt. Er ist hoch intelligent und manchmal aggressiv. Der Chefarzt Dr. Löble isst mit und beobachtet. Ohne weißen Kittel und Rezeptblock neben dem Teller, sondern in einem dunkelblauen Poloshirt. Darin zeichnet sich ein gemütlicher Bauchansatz ab. Väterlich reicht er Brötchen. Es gibt Marmelade; vegetarische Brotaufstriche. Vergleichen kann sich Pia beim Essen nur mit Patienten, die nicht an Essstörungen leiden.
Nach dem Frühstück verteidigt Dr. Löble sein buntes Klinikkonzept; eine Spezialisierung hielte er nicht für sinnvoll. Das Büro des Chefarztes ist durch eine abgeschlossene Tür am Ende des Stationsflurs und eine Sekretärin im Vorzimmer abgegrenzt. „Zehn Anorexien auf einer Station, das halten auch wir nicht durch. Die gucken dann, wer am besten die Waage bescheißen kann.“ Sein Haar hat sich über die Jahre zurückgezogen. Sein Ernst nicht. Der schwingt gerade dann mit, wenn er über die ersten Momente von Pias Einweisung redet.
Der Arzt droht mit Zwangsernährung
Am Anfang ihres Aufenthalts im November verliert die Patientin weitere 300 Gramm. 39,9 Kilogram wiegt ihr Körper da nur noch. Dr. Löble droht, Pia zum Essen zu zwingen. Ihr eine Nasensonde zu legen. Durchschnittlich zweimal im Jahr macht der Doktor mit seiner Drohung ernst. Sonst warnt er nur. Körperliche Gewalt übe er nicht aus. „Ich dachte, davon stirbt man ja nicht, wenn man keinen Hunger hat“, erzählt Pia später während der Besuchszeit ihrer Mutter.
Dass Frau Orth ihre Tochter heute sehen darf, ist nicht selbstverständlich. Denn anfangs hat Pia noch ein absolutes Besuchsverbot. Sobald Frau Orth die 30 Minuten mit dem Auto zum Klinikum fährt, gehen ihr dieselben Gedanken durch den Kopf: „Ich habe immer Bauchweh. Weil ich nicht weiß, was heute wieder auf mich zukommt.“
Wenn nichts mehr geht, fängt Frau Orth an zu laufen. Abends nach dem Schaffen, wie die Baden-Württembergerin es sagt. Die schlanke Mutter dreier Kinder trägt ihr halblanges Haar offen. Anders als ihre Tochter. Verunsichert sitzen sich beide in der sonst leeren Gemeinschaftsküche gegenüber.
Pia hat ihre Mutter hierhergeführt und sich gegen das Afrika-Zimmer entschieden. Gegen die schwarze Uhr, die dort hängt und genau anzeigen würde, wann die Besuchszeit vorbei ist. Die Küche ist sonnendurchflutet. Fast wünscht man sich, die Augen zukneifen zu können. Nur um für einen Moment den traurigen Gesichtszügen von Pia, aber vor allem denen von Frau Orth zu entkommen. Doch die Februarsonne blendet nicht stark genug.
Pia will kein Muggaseggele
Viel Programm hat Pia heute noch nicht gehabt. Nach dem Frühstück löst sie in der Klinik-Schule ein paar Matheaufgaben. Später backt sie einen Hefezopf. Das macht sie jetzt wieder gern. Noch kurz vor dem Aufenthalt in der Psychiatrie hat die Magersüchtige Angst, dass sie ihre Hefezöpfe aufessen muss. Aber jetzt ist erst mal Mama da. „Unsere Familie ist so stark zusammengewachsen. Wir waren schon vorher eine tolle Familie, aber jetzt . . . Es ist Wahnsinn“, schwärmt Frau Orth.
Dann erzählt sie von früher. Von den Samstagen daheim. Vor Pias Klinikaufenthalt saß die ganze Familie dann immer zusammen am Frühstückstisch. Außer Pia. Die tat so, als würde sie schlafen. Für Pia war der Samstag der schlimmste Tag in der Woche, wenn der Papa gescheit essen will. Pias Sorgen schwellen dann in ihrem Bauch wie ein Hefezopf an, kurz bevor er in der Backform überquillt.
Ihre Mutter versucht sie damals um elf Uhr aus dem Zimmer zu bekommen. „Wenigstens ein Muggaseggele!“ Wenigstens ein kleines bisschen, so sagt man in Baden-Württemberg. Eines Abends eskaliert der Konflikt. Alle Versprechungen von Pia, morgen endlich vernünftig zu essen, glauben die Eltern nicht mehr. „Das wurde immer schlimmer und immer schlimmer. Am Schluss hat sie am Tag vielleicht noch 300 Kalorien zu sich genommen“, sagt Frau Orth.
Pia korrigiert: 600 Kalorien seien es am Tag gewesen. „Sagst du“, sagt die Mutter. Pia schüttelt den Kopf. „Es war so.“ Ihre Worte klingen nun wieder so, als wären sie zu einem strengen Zopf geknotet. Als Mutter und Tochter zum Schluss doch die Tränen nicht mehr halten können, ist es Pia, die nach der Hand ihrer Mutter greift und sie festhält.
„Ich hab Angst, ich gebe es zu.“
Draußen ist es trübhell geworden. Die Besuchszeit ist gleich zu Ende. Dann wird Pia wieder in ihrem kleinen Zimmer liegen, das sie sich mit einer Patientin teilen muss. In ihrem Bett ist sie umgeben von all den Fotos mit Menschen, die zu ihr halten. Am kommenden Wochenende darf Pia das erste Mal seit Monaten wieder bei ihrer Familie übernachten. Frau Orth freut sich nicht besonders: „Ich hab Angst, ich gebe es zu.“ Sechs Wochen muss Pia ihre 47 Kilos jetzt noch halten.
„Irgendwann erzählt sie das hier alles ihren vielen Kindern!“, platzt es aus Frau Orth plötzlich mit schwäbischem Dialekt raus. Pia lacht kurz auf. In ihrer Fantasie hat Frau Orth sich die Zukunft ihrer Tochter ausgemalt; fünf Enkelkinder und ein Bauernhof mit vielen Tieren gehören dazu. „Drei Kinder, aber keinen Bauernhof“, wehrt sich die 13-Jährige. Vielleicht möchte sie auch in Berlin leben. Und Polizistin werden. Beide lächeln. Pia wünscht sich, nicht mehr ständig ans Essen denken zu müssen. In manchen Augenblicken gelingt ihr das schon.
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