Kampf gegen Obdachlosigkeit in Hannover: Heimliche Hausbesetzung
In der niedersächsischen Landeshauptstadt haben Aktivist*innen gemeinsam mit Betroffenen leer stehenden Wohnraum besetzt. Der Ort ist geheim.
Zwischen Altbauten irgendwo im Hannoveraner Innenstadtgebiet geht es in ein Wohnhaus. Durch einen langen Gang, die Treppen hinauf und durch Türen. Max achtet darauf, keinen unnötigen Lärm zu machen. Er will nicht auffallen, denn er möchte so lange wie möglich weiter hier wohnen.
Gemietet hat er die Wohnung nicht, sondern mithilfe von Aktivist*innen besetzt. Bald sollen Mitbewohner*innen einziehen. Mit einem Augenzwinkern sagt er, er wolle keine Namen nennen, bedankt sich aber für die Hilfe. Mit einem Lachen erzählt er auch, dass das nicht das erste Mal sei, dass er sich Wohnraum einfach selbst nehme.
Aktivist*innen des Kiezkollektivs haben geholfen. Am 14. Dezember ist in dem Internetportal Indymedia ein Text aufgetaucht, der auf die Besetzung hinweist. Motivation ist für die Gruppe – neben der unmittelbaren Hilfe im Angesicht der Pandemie – Immobilien der kapitalistischen Verwertungslogik zu entziehen.
Aktionen angekündigt
Seit mehreren Monaten hängen Plakate in der niedersächsischen Landeshauptstadt, die dazu auffordern, Leerstand zu melden. Gleiches forderte ein Redebeitrag bei der „Jetzt besetzen wir!“-Demonstration am 6. Dezember. Um den Rest werde sich gekümmert.
Auf Worte sind in Hannover nun schon zum zweiten Mal in kurzer Zeit Taten gefolgt. Bereits nach der Demonstration am 6. Dezember hatten Aktivist*innen in der Schulenburger Landstrasse 197 die „Rote Reihe“, eine städtische Immobilie, als Wohnraum für Wohnungs- und Obdachlose für mehrere Stunden besetzt gehalten.
Die Stadt erstattete Anzeige wegen Hausfriedensbruchs und die Polizei räumte mit einer Stahlramme die Besetzung. Schnell war der Traum einer menschenwürdigen coronakonformen Einzelunterbringung, wie sie verschiedenste Initiativen und Betroffene fordern, aus.
Hinter dem Standard, dass Aktivist*innen und Betroffene in Hannover gemeinsame Sache machten, werde aber nicht mehr zurückgefallen, kündigten Aktivist*innen in der Schulenburger Landstraße nach der Räumung über das Mikrofon eines Lautsprecherwagens an.
Wenn es nach Max und denen, die ihn unterstützen, geht, soll das bei der neuen Besetzung ganz anders laufen. Bewusst wurde heimlich gearbeitet. Nur wenige sind über den Ort eingeweiht und das soll auch so bleiben. Das A und O sei, nicht aufzufallen, meint Max. Zum Besetzen habe er keine Alternative: „Das ist meine einzige Chance.“
Jedes Mal, wenn er zum Wohnungsamt gehe, würde ihm gesagt, viele Menschen suchten eine Wohnung. Er könne darauf nur antworten, er sei auch einer von denen und auch auf der Straße. Er fühle sich verraten und helfe sich nun einfach selbst.
Max ist nicht der Einzige, der unmittelbar handelt. Die Debatte über die Situation von Wohnungs- und Obdachlosen beschäftigt seit März die Stadtgesellschaft. Eine Hotelunterbringung war erst geöffnet, dann zweimal in letzter Sekunde nach Protesten verlängert und dann schließlich beendet worden.
Die Stadt reagierte mit dem Housing-First-Projekt „Plan B – OK“. Im kommenden Jahr sollen Menschen dort mehrere Monate unbürokratisch ein Dach über dem Kopf bekommen, bis der Anspruch auf staatliche Hilfe geklärt ist. Zwei Stiftungen ging das zu langsam und diese verlängerten die Hotelunterbringung kurzer Hand mithilfe von Spendengeldern um mehrere Monate. Die Stadt verweist weiterhin an bestehende Notangebote, die wollen Betroffene aber selten wahrnehmen. Zu schlecht seien dort die Bedingungen.
Auf einem Kissen, im Schein einer kleinen Taschenlampe auf dem Boden der besetzten Wohnung sitzend, erzählt Max von seinem Leben. Als er ein Junge war, sei er nach Hannover gekommen, hier zur Schule gegangen und wohne eigentlich schon immer hier im Viertel. Sein Vater sei einer der Ersten der Gastarbeiter-Generation gewesen und habe ihm einen Job bei Continental verschafft.
Knapp 30 Jahre habe er bei der mittlerweile geschlossenen Conti Limmer gearbeitet und zur Renten- und Sozialversicherung beigetragen. Nach einem Bandscheibenvorfall wurde er arbeitslos. Auch Familie habe er gehabt, sei aber vor einigen Jahren nach dem Scheitern einer Ehe pleite auf der Straße gelandet.
Hauptsache windgeschützt
Einen trockenen Schlafplatz hatte Max zuletzt zwar gefunden. Der sei aber kalt und nicht wirklich windgeschützt gewesen. Toilette, Dusche oder gar Strom habe es dort nicht gegeben. Letzteres funktioniert genauso wie die Heizung auch in der besetzten Wohnung noch nicht.
Das sei aber nicht so schlimm, findet der ältere Herr mit zerzaustem Bart mit Blick auf die Ecke, in der er es sich mit einer Matratze, einem Schlafsack, Decken und einigen Essensvorräten häuslich eingerichtet hat. Das Nötigste zum Leben, erzählt er, würden ihm Menschen im Viertel zustecken. Das erleichtere seinen Alltag.
Nach wie vor sei sein größter Traum, eine eigene Wohnung zu haben. Letzte Nacht habe er das erste Mal in der Besetzung übernachtet, erzählt er mit einem Glitzern in den Augen. Er finde es hier sehr schön, hat aber auch Bedenken. „Man hat nachts so ein komisches Gefühl im Bauch, als ob jederzeit irgendjemand kommt und die Tür aufmacht.“ Trotz allem biete die Wohnung den lang ersehnten Rückzug und Komfort.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen