Kampf gegen Diskriminierung: Die neue Unerbittlichkeit
Der Kampf gegen Diskriminierung hat zwei Gesichter: notwendigen Widerstand und überschießenden Exzess. Das macht ihn zutiefst ambivalent.
D ie Intensivierung des Kampfes gegen Diskriminierung, das Ringen um Political Correctness und Identitätspolitik – all diese Aufladungen, die wir derzeit beobachten, haben die Tendenz, sich auf eine Frage zuzuspitzen: Bist du dafür oder dagegen?
Aber diese Art der Fragestellung ist irreführend. Denn sie verdeckt, dass es zwei Kämpfe, zwei Gesichter dieser Auseinandersetzung gibt. Das eine ist das Gesicht des Kampfes gegen Ungerechtigkeit. Zu diesem Gesicht gehören etwa die derzeitigen US-Demonstrationen, die an der Polizeigewalt den grassierenden Rassismus aufzeigen. Und dazu gehört auch das Echo dieses Aufschreis, das in Europa nachhallt als neues Bewusstsein der eigenen verdrängten Kolonialgeschichte.
Zugleich gibt es das andere Gesicht dieses Kampfes. Jenes, wo es nicht um Rechte, sondern um Meinungen geht. Hier ufert der Einspruch aus. Hier bekommt er dogmatische, ja fanatische Züge. Das Eintreten gegen Rassismus, gegen Diskriminierung ist also gespalten. Man könnte auch sagen: Es ist zutiefst ambivalent. Diese Ambivalenz, diese zwei Gesichter treten auch noch gleichzeitig auf. Ja, sie gehen teilweise sogar ineinander über. Und oft ist es schwierig, die Grenze zu ziehen. Und dennoch.
Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen dem Kampf gegen manifesten Rassismus, Diskriminierung, Gewalt – und jenen gegen einen unterstellten. Man ist fast versucht zu sagen: Es gibt einen rationalen und einen irrationalen Kampf. Das ist der Unterschied zwischen notwendigem Widerstand und überschießendem Exzess.
Wo der Verdacht ausreicht
Derzeit präsentieren sich beide Varianten als Herabstoßen alter Autoritäten von ihrem Sockel – metaphorisch und wörtlich. Es ist wichtig, hier festzuhalten: Der Unterschied liegt nicht darin, ob man gegen große Autoritäten oder gegen kleine Wörter – wie etwa das N-Wort – vorgeht. Auch in Wörtern, Abbildern, Filmen finden sich sedimentierte Hierarchien und Abwertungen. Sie dienen den kleinen diskriminierenden Alltagsentladungen.
Der Exzess aber liegt woanders. Er setzt dort ein, wo ein Verdacht ausreicht, wo Meinungen geahndet werden. Ahnden – das ist das entscheidende Stichwort. Der wahre Exzess beginnt dort, wo an die Stelle der alten Autoritäten nicht einfach Freiheit, Gleichberechtigung, Inklusion tritt – sondern eine neue Autorität. Eine, die Vergehen ahndet. Diese neue Autorität ist nicht personalisiert. Sie hat keinen Sprecher. Keine Adresse.
Hier wird die Grenzziehung zusätzlich erschwert. Denn beide Formen von Antirassismus funktionieren über dieselbe Art von Politik: eine deregulierte Politik. Dereguliert heißt, sie tritt plötzlich auf. Unerwartet. Dereguliert heißt, dass es keine institutionelle Organisation gibt: Die politischen Energien treten unkanalisiert und eruptiv auf. Das macht ihre Vehemenz aus.
Streng. Strafend. Unnachgiebig. Das neue Über-Ich
Dereguliert heißt auch, dass es keinen vorexistierenden politischen Akteur gibt. Es sind Einzelne, die sich zu Netzwerken formieren, zu Gruppen, zu Massen, zu einem Hashtag. Diese Hashtag-Politik hat keine geregelten Formen der Konfliktaustragung. Keine vorgegeben Orte der Auseinandersetzung. Dort aber, wo der Exzess beginnt, dort kippt sie: von einer heterogenen, dezentralen, führerlosen Bewegung in ihr Gegenteil: in die Implementierung eines neuen gesellschaftlichen Über-Ichs.
Auch Kulturen haben, so Freud, ein solches Über-Ich. Das ist jene Instanz, die genau das leistet, was der Exzess an Political Correctness betreibt: Beobachtung, Kontrolle, Urteil, schlechtes Gewissen, Tabus, Ahndung der Abweichung vom Ideal. Streng. Strafend. Unnachgiebig. Mit einer Tendenz zum Ausufern. Es war ein schönes Stück – gesellschaftlicher, kultureller, politischer – Arbeit, das alte Über-Ich mit seinen Normierungen und Vorschriften abzubauen.
Umso erstaunlicher ist das Aufrichten einer neuen strafenden Instanz. Im Exzess zeigt sich das wilde Begehren, die Sehnsucht nach einer neuen Unerbittlichkeit. Hier kippt die liberale Freiheit und offenbart ihre Kehrseite: ein neues kollektives Über-Ich.
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