Kampagnenorganisation für Bürgerrechte: Digitale Gesellschaft ohne Community
Auf der re:publica wurde die "Digitale Gesellschaft" vorgestellt: eine Kampagnenorganisation für die Remix-Gesellschaft. Beifall und Kritik halten sich die Waage.
BERLIN taz | "Die heutige Netzpolitik ist schlecht, sie orientiert sich nicht an den Interessen der Nutzer und schadet oft mehr als sie nützt", sagt Markus Beckedahl, der Vorsitzende des Vereins, der bereits vor einem dreiviertel Jahr in Berlin gegründet wurde. Ziel sei es, die Realitäten einer Welt, in der Smartphones und Facebook zum Alltag gehören, anzuerkennen und politisch zu gestalten – und der Content-Lobby etwas schlagkräftiges entgegen zu setzen.
Gewachsen ist die Idee seit vielen Jahren. Jetzt hat Beckedahl zusammen mit einigen Gleichgesinnten aus der Bewegung und aus dem Umfeld der Grünen die Kampagnenorganisation "Digitale Gesellschaft" aus der Taufe gehoben.
Man wolle auf Erfahrungen aus anderen sozialen Bewegungen wie der Umweltbewegung aufbauen und diese digital weiterdenken, so Beckedahl. Thematisch wird es in erster Linie gegen Überwachung gehen, für einen transparenten Staat und für ein modernes Urheberrecht. Dabei soll zum einen "eine Kampagneninfrastruktur aufgebaut" werden, zum anderen will man "eine wirksame Interessenvertretung für digitale Verbraucherrechte" sein. Dazu gehört auch Lobbying in parlamentarischen Prozessen. Bislang sehen sich hierbei die ehrenamtlichen Aktivisten einer hochbezahlten Content-Lobby gegenüber, die beispielsweise weiterhin Netzsperren durchsetzen will.
Die erste Aktion: Fragen stellen. Beckedahl forderte die Zuhörer auf, bei Twitter unter dem Hashtag #warum "deine netzpolitische Frage an Wirtschaft und Politik" zu stellen. Auf der Webseite kann man seine Warum-Frage mit einem Foto von sich selbst garnieren. In Zukunft soll es weitere derart fertig konzeptionierte Mitmach-Aktionen geben. "Wir schaffen ein Angebot. Das kann man gut finden und da mitmachen oder man kann es schlecht finden und dann lässt man es", sagte Beckedahl.
Vergleichbar mit Campact
So, wie sich die Organisation bislang darstellt, ist sie am besten vergleichbar mit der Verdener Kampagnen-Organisation Campact. Auch Beckedahl selbst nennt Campact als Vorbild. Sehr niedrigschwellig, sehr einfaches Engagement, wenig Zeitaufwand, Mitmachmöglichkeiten auch für Menschen, die sonst wenig Zeit haben – aber eben auch wenige Möglichkeiten, die Kampagnen inhaltlich mitzugestalten.
Nicht allen gefällt das. Sascha Lobo machte sich in seinem Trollvortrag ein wenig über den Verein lustig: "Ich weiß nicht, in welchem Network das entstanden ist - ich kenne es nicht". Alvar Freude, der für die SPD in der Enquetekommission "Internet und digitale Gesellschaft" sitzt und in den letzten Jahren mit dem AK Zensur gegen Netzsperren und den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag kämpfte, formuliert diplomatisch: "Es wäre schön, wenn viele einbezogen werden". Verena Reygers vom Blog mädchenmannschaft fragte ketzerisch: "Wer ist die digitale Gesellschaft – wir?"
Unklar blieb auf der re:publica, wie die Einbindung von Interessierten erfolgen soll. Der Verein ist aktuell sehr Berlin-lastig. Über Tools wie zum Beispiel Wikis, Pads oder Mailingslisten gab es keine konkreten Angaben, man sprach wolkig von "Infrastrukturen". Markus Beckedahl setzt den Ängsten entgegen: "Ein Verein ist keine Diktatur". Trotzdem sagen einige, die neue NGO sei ihnen "zu sehr Top-Down" und es sei unbegreiflich, dass man nicht das kollaborative Arbeiten zum Konzept mache. Auch wird die mangelnde Transparenz, was Mitglieder betrifft, moniert. Aktuell soll es rund 15 stimmberechtigte Mitglieder geben, vom CCC und dem AK Vorratsdatenspeicherung und aus der Wissenschaft. Eine Satzung liegt online nicht vor, einen Haushalt gibt es noch nicht.
Top-Down ist nicht mehr zeitgemäß
Einer merkt an, dass ein solch abgeschlossener Ansatz nicht mehr zeitgemäß sei. Greenpeace zum Beispiel – Ortsgruppen durften früher beispielsweise Aktionen gegen Vattenfall nicht durchführen, weil Greenpeace Deutschland gerade den Focus auf Campaigning gegen RWE legte – hat umgestellt und mit "GreenAction" die eigenen Hierarchien massiv infrage gestellt. Nicht zuletzt herrscht bei den Kritikern des Vereins "Digitale Gesellschaft" die Befürchtung, dass andere Organisationen, die im gleichen Politikfeld aktiv sind, "untergehen" könnten.
Vielleicht spielt ja auch ein bisschen Neid mit, und Angst um eine neue Konkurrenz. Und nicht alle sind so kritisch. Viele finden es gut, "dass es endlich so eine Lobby gibt". Die Netzaktivistin Anne Roth findet, der Digitalverein sei "ein interessanter Versuch". Sie wünsche ihm "gutes Gelingen". Christian Heller von der "datenschutzkritischen Spackeria" hat sich bisher zu wenig mit dieser NGO beschäftigt, wie er sagt, meint aber: "Ich freu mich immer, wenn Markus Beckedahl neue Projekte macht. Kommen bestimmt gute Sachen raus." Der Aktivist und Künstler Philipp Steffan sagt, er hoffe, der Verein werde "eine schlimme Lobby-Vereinigung, so wie sie nötig ist".
So halten sich der Ärger darüber, nicht frühzeitig eingebunden worden zu sein und die Neugier, wie die bislang eher undurchsichtige Organisation die nun auf sie zukommenden Herausforderungen meistern wird, die Waage. Die Themen, die bislang auf der Webseite des Vereins angepriesen werden, sind in der Tat noch ausbaufähig. Es geht eben doch hauptsächlich gegen Überwachung und für ein modernes Urheberrecht, so wie es auch auf netzpolitik.org täglich nachzulesen ist. Nicht nur der Medienpädagoge Jürgen Ertelt findet, das die positive Gestaltung der digitalen Gesellschaft im Themenzuschnitt noch lückenhaft sei. Es fehle "der ganze Themenbereich Bildung und Medienkompetenz. Man muss den Wandel auch so gestalten, dass man alle mitnimmt".
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