Kampagne für ein besseres Schulsystem: Lehrer*innen gesucht
In Berlin demonstrieren Bildungsaktivist*innen gegen Lehrkräftemangel. Sie fordern mehr Studienplätze.
BERLIN taz | Das Haus der Statistik nahe dem Berliner Alexanderplatz ist ein sanierungsbedürftiger Bürokomplex aus den 70er Jahren. Davor steht Philipp Dehne und deutet auf die marode Fassade. „Da steht das Berliner Schulsystem – entkernt und ausgehöhlt“, ruft er in sein Mikro. Dehne, hochgewachsen und in Jeans und T-Shirt, ist Mitgründer der Berliner Bildungskampagne „Schule muss anders“. Am vergangenen Samstag versammeln sich mit ihm rund 800 Lehrkräfte, Sozialarbeiter*innen, Eltern und Schüler*innen, um für bessere Bedingungen an Schulen zu demonstrieren.
Den eklatanten Lehrkräftemangel zu bekämpfen gehört zu den Hauptforderungen der Kampagne. In Berlin blieben laut Senatsverwaltung zum neuen Schuljahr 80 Lehrkraftstellen unbesetzt. Bei 60 Prozent der neu besetzten Stellen wurden Quereinsteigende eingestellt, also Bewerber*innen, die kein Lehramtsstudium absolviert haben. An Grundschulen lag der Anteil sogar bei 80 Prozent.
Ausgebildete Lehrer*innen fehlen landauf, landab, und so beschäftigen fast alle Bundesländer Quereinsteiger*innen, besonders aber die östlichen. Deren Anteil liegt in Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern regelmäßig über 20 Prozent. Die Mangelsituation wird in den kommenden Jahren anhalten.
Im Dezember 2020 errechnete die Kultusministerkonferenz (KMK), dass an Grundschulen bis 2025 bundesweit knapp 11.000 Lehrkräfte fehlen, danach soll sich der Trend umkehren. Im Sekundarbereich I mangelt es bis 2030 jährlich im Durchschnitt an 2.080, in berufsbildenden Schulen an 970 Lehrkräften.
Zweifel an Zahlen der KMK
Expert*innen zweifeln jedoch an den Daten der Kultusministerkonferenz, da diese von zu niedrigen Schüler*innenzahlen ausgehe. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung von 2019 würden stattdessen bis 2025 insgesamt 26.300 zusätzliche Lehrkräfte an Grundschulen benötigt. „An den Universitäten werden nicht genügend Studienplätze bereitgestellt, der Bedarf muss besser errechnet werden“, kritisiert Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft (GEW) für Erziehung und Wissenschaft für den Bereich Schule.
„Das hat man lange Jahre nicht ordentlich getan“, so Bensinger-Stolze. In der Folge konkurrieren die Bundesländer unabgestimmt miteinander um die fehlenden Fachkräfte. „Es muss ein bundesweites Monitoring zum Thema Lehramtsstudienplätze geben“, fordert deshalb Grünen-Bildungspolitikerin Stefanie Remlinger.
Nicht nur die Zahl der Ausbildungsplätze, auch die Struktur des Lehramtsstudiums steht in der Kritik. Die Theorie-Praxis-Verknüpfung müsse weiter ausgebaut werden, findet Claudius Baumann, der sich bei der studentischen Initiative „Kreidestaub“ für eine bessere Lehrkräftebildung engagiert. Zudem fehlten Module zu den Themen Schulentwicklung, Diskriminierung, Antirassismus und Umweltbildung.
„Gerade aus Bildungsgerechtigkeitsperspektive ist es eine Katastrophe, wenn Schüler*innen von Lehrkräften unterrichtet werden, die in diesen Feldern nicht professionell agieren“, sagt Baumann. „Pädagogische Gedanken finden keine Zeit und das müssen wir dann aushalten“, kritisiert auch der 19-jährige Abiturient Wanja Kirmis, der sich bei „Schule muss anders“ engagiert.
Maßnahmen wirken nicht
Mit Trillerpfeifen ziehen die Demonstrierenden zum Roten Rathaus. Dort äußern sich die Politikerinnen Silke Gebel von den Grünen, Maja Lasić von der SPD und Regina Kittler von den Linken. Alle drei unterstützen die Initiative.
Die rot-rot-grüne Regierungskoalition in Berlin hat in den letzten Jahren Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel ergriffen: Gehaltserhöhungen für Grundschullehrkräfte, Prämien für diejenigen, die mit über 65 Jahren noch weiter unterrichten, oder die Aufstockung von Ausbildungsplätzen von 1.000 auf 2.000 in den Hochschulverträgen.
Gezündet hat davon nichts so richtig, noch verlassen jährlich nur rund 900 Absolvent*innen die Berliner Hochschulen. „Wir warten noch darauf, dass die Lehrkräfte endlich an den Schulen ankommen“, sagt die Sozialdemokratin Lasić. Aber auch mit 2.000 Absolvent*innen würde man „nur ein Mangelsystem fortschreiben“, kritisiert Bildungsaktivist Dehne. 3.000 jährliche Absolvent*innen müssten angestrebt werden, damit sich die Lernbedingungen wirklich verbessern.
Leser*innenkommentare
Ruediger
Quereinsteiger müssen doch auch ein Referendariat absolvieren. Und eigentlich können die Schüler nur davon profitieren, wenn sie Lehrer haben, die auch das "echte Leben" außerhalb des Mikrokosmos Schule kennengelernt haben.