Kamerafrau über Migration: „Mein Vater wäre sehr stolz“
Kamerafrau Zamarin Wahdat hat für ihren Film einen Oscar bekommen. Ein Gespräch über die Rückkehr nach Afghanistan, Skaten und Rassismus.
taz: Frau Wahdat, erinnern Sie sich an Ihre Kindheit in Kabul?
Zamarin Wahdat: Nein, ich war zu klein. Ich war zwei, als wir nach Deutschland geflohen sind. Aber meine Mama hat mir unsere Flucht erzählt.
Was hat sie erzählt?
Mein Vater war der Naturwissenschaftliche Leiter an der Academy of Science von Kabul. Er hat seinen Job und Afghanistan geliebt. Aber die Situation in Afghanistan wurde immer unruhiger und deshalb musste unsere Großfamilie das Land verlassen. Meine Großeltern sind mit dem Rest der Familie zwei Jahre zuvor mit Eseln und auf Lastern über die Berge nach Pakistan geflohen. Meine Familie konnte nicht mit. Meine Schwester und ich waren zu klein und hätten es wahrscheinlich nicht geschafft.
Und Ihre eigene Flucht?
Wir haben darauf gewartet, dass wir einen sicheren Weg rausfinden. Eines Tages hieß es in den Nachrichten, dass man Reisepässe beantragen kann. Meine Eltern haben dann sofort die Chance ergriffen und sich welche besorgt. So konnten wir mit dem Flugzeug nach Delhi. Dort blieben wir neun Monate in einer Wohnung in Lajpat Nagar. Das ist ein riesiger District, in dem fast nur afghanische Geflüchtete leben. Dort besuchte uns dann mein Onkel aus Hamburg, den mein Vater Jahre nicht gesehen hatte, und er bat uns, nach Deutschland zu kommen. Das ging allerdings nicht direkt. Über zwei weitere Zwischenstationen und mehrere Monate, in denen wir kein richtiges Zuhause hatten, kamen wir schließlich nach Deutschland.
Und wann setzen Ihre Erinnerungen ein?
Wir haben in einer Asylunterkunft in Dehnhaide in Hamburg gelebt, das sind meine ersten Erinnerungen. Dort waren wir bis 1995, bis wir in eine richtige Wohnung durften. Jede Familie hatte nur ein Zimmer. Als Kind denkt man, das ist das Leben, man kennt es ja nicht anders. Meine Schwester und ich fanden das richtig toll, es war ein großer Spielplatz, da waren Araber, Rumänen, Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien, wir hatten immer jemanden zum Spielen.
31, wurde in Kabul geboren. Als sie zwei Jahre alt war, floh ihre Familie nach Hamburg. Heute arbeitet sie als Kamerafrau. Zuletzt gewann sie im Februar einen Oscar für die Doku „Learning to Skateboard in a Warzone (If You’r a Girl)“. Seit Kurzem ist sie auch „Citizen of Skateistan“ (skateistan.org).
Heute sind Sie Deutsche?
Ja, aber das hat lange gedauert. Wir hatten ewig die blauen Pässe. Das hieß Duldung auf unbegrenzte Zeit. Erst als ich elf war, wurden wir eingebürgert.
Stellen Sie sich manchmal vor, wie es gewesen wäre, in Kabul aufzuwachsen?
Ja. Vor allem als ich das erste Mal zurück bin, für den Film „Learning to Skateboard in a Warzone (If You’re a Girl)“. Als ich mit den kleinen Mädchen in Skateistan, so heißt die Schule, über die wir die Doku gedreht haben, gesprochen habe. Und mit deren Müttern, die sagten: „Ich bin so froh, dass meine Kinder nicht im Krieg aufwachsen!“ Auch als wir als Filmteam da waren, gab es immerzu Anschläge.
Und Sie dachten, wie kann man sagen, das sei kein Krieg?
Genau. Aber diese Frauen waren alle unter den Taliban aufgewachsen. Sie meinten alle, dass das die wahre Hölle war. Sie durften nichts als Frauen. Wirklich gar nichts. Kein Fernsehen, nichts lesen, sie waren einfach nur Gefangene.
Sie haben im Februar als Team sogar den Oskar gewonnen für Ihre Doku. Wie kam es denn dazu, dass Sie bei dem Film mitgewirkt haben?
Nach meinem Bachelor in England bin ich für meinen Master nach New York. Im zweiten Jahr habe ich eine Professorin kennengelernt, die nur Filme über Afghanistan gemacht hat. Für die habe ich manchmal als Übersetzerin gearbeitet. Irgendwann kam sie auf mich zu und meinte: Wahdat, willst du mitwirken bei einem Projekt über die Skateschule in Kabul? Und ich habe sofort Ja gesagt. Ohne zu zögern, ohne meine Familie vorher zu fragen.
Wie hat die Familie dann reagiert?
Meine Onkels waren pragmatisch und haben mir Tipps gegeben. Meine Mutter hat erst geweint, dann aber verstanden, warum ich zurück wollte. Meine Schwester war die Letzte, der ich es erzählt habe. Das war das Schwierigste. Mein Vater hätte sicherlich auch große Angst um mich gehabt. Aber er ist leider verstorben, als ich 23 war.
Was ist Skateistan genau?
Skateistan ist eine NGO, die 2009 gegründet wurde. Von dem Australier Oliver Percovich, der sieben Jahre in Kabul gelebt hat und etwas für die Kinder tun wollte. Er war professioneller Skater und dachte: Ich gründe eine Skateschule. Unter den Taliban und auch danach war Sport für Mädchen verpönt. Skaten kannte aber niemand und es galt daher nicht als Sport. So konnten nicht nur Jungs, sondern später auch Mädchen auf die Schule gehen. Die Kinder lernen dort auch Lesen, Schreiben, Rechnen. Mittlerweile gibt es mehrere Schulen weltweit. Kurz vor der Pandemie sollte eigentlich die dritte in Afghanistan öffnen. Jetzt sind sie allerdings erst mal alle dicht.
Gerade für die Mädchen ist es ein besonderer Ort.
Ja, sie fühlen sich dort frei. Das ist der einzige Ort, wo sie mal nicht Tee kochen, im Haushalt helfen müssen. Sie können dort sie selbst sein. Es war so beeindruckend, was das Skaten und der Unterricht mit ihnen machen. Sie werden so selbstbewusst, wollen Ärztinnen, Lehrerinnen, Pilotinnen werden. Sie haben dort Vorbilder. Und wenn ein Mädchen sagt: 'Ich will Skatelehrerin werden wie Hanifa.’ Und wenn du siehst, wie ihre Augen dabei leuchten, das berührt sehr.
Ist Skateistan in Kabul auch ein feministisches Projekt?
Unbedingt. Aber was fast noch wichtiger ist, ist die Schulung der Jungen. Als Junge kannst du in Afghanistan machen, was du willst, bist super dominant. Ich hatte eigentlich immer alles bedeckt, als ich in Kabul war. Aber einmal hat ein 14-jähriger Junge zu mir gesagt: „Schwester, man kann deinen Nacken sehen. Das ist nicht gut.“ Und das hat er mit so einer Autorität gesagt, als ob er mein Vater oder Lehrer wäre. Aber auch da passiert Gott sei Dank viel an der Schule.
Sie kannten Afghanistan nur aus Erzählungen. Wie war es, das erste Mal wieder dort zu sein?
Für mich war Afghanistan immer das Paradies, ein bisschen wie die Schweiz, so haben es meine Eltern immer beschrieben. Obwohl ich ja die schlimmen Bilder kannte. Als ich in Kabul ankam, sagte der Grenzbeamte zu mir: „Willkommen zu Hause“. Das war für mich ein schönes Gefühl, weil ich erstmals vermittelt bekommen hatte: Du gehörst hierher.
In Deutschland war das anders?
Ja, leider. Ich bin hier aufgewachsen, das ist mein Zuhause. Aber ich habe diese Haarfarbe, sehe anders aus, ich werde hier immer die Ausländerin bleiben. Vor allem seit 2015 spüre ich das wieder verstärkt. Selbst hier in Hamburg hat mich ein Mann in der U-Bahn angeblafft: „Was guckst du mich so an, du scheiß Muslimin!“ Das tut weh, Hamburg ist meine Heimatstadt. Ich hatte Tränen in den Augen. Seitdem bin ich empfindlicher, was Rassismus angeht.
Sind Sie denn politisch?
Früher dachte ich das nie. Aber jetzt beschäftige ich mich, auch beruflich, mehr und mehr mit dem Migrationsthema. Mein nächstes Projekt begleitet die syrische Schwimmerin und Aktivistin Sarah Mardini, die gemeinsam mit ihrer Schwester 2015 auf ihrer Flucht ein Schlauchboot die letzten Kilometer zur griechischen Küste schwimmend zog.
Aber auch vor 2015 war Rassismus Thema für Sie?
Natürlich. Als ich zum Beispiel in der Abizeit gesagt habe, dass ich Lehrerin werden möchte. Da sagte mein Vater: 'Zähl mir eine Lehrerin auf, die nicht deutsch war!’ Mir fiel nur Frau Bonheur ein. Und er sagte: Was hat denn Frau Bonheur unterrichtet? Ich sagte Französisch und wusste sofort, was er meint. Das hatte natürlich mit seiner eigenen Frustration zu tun. In Kabul war er Unileiter und hier Kurierfahrer. Dieses Gespräch mit meinem Vater hat den Plan keimen lassen, nach England zu gehen.
Und dort war es dann tatsächlich anders?
Ja, in England habe ich das erste Mal einen Professor gesehen, der Inder war, oder einen Unileiter aus dem Iran. Das war ich nicht gewohnt. Alles dort war viel multikultureller. In den USA genauso. Dort wollte ich eh immer hin, weil ich mit meinem Papa immer Western geschaut habe, als ich klein war. Ich glaube, daher kam auch mein Traum, Filme zu machen.
Und einige Jahre später sitzen Sie bei den Oscars und gewinnen auch noch.
Ja, Wahnsinn, oder?
Ihr Vater, wäre der heute stolz auf Sie?
Er wäre sehr, sehr stolz.
Kurz bevor Corona Sie weitestgehend beschäftigungslos gemacht hat, waren Sie als Kamerafrau in Moria auf Lesbos. Was hat Sie am meisten überrascht?
Mir war nicht klar, wie viele Afghanen dort sind, 70 bis 80 Prozent. Ich dachte echt, ich bin in Klein-Afghanistan. Und die stehen ganz unten in den Bearbeitungsprozessen. Afghanistan gilt ja als sicher. Viele leben zwölf Monate oder länger in Moria, bis sie rauskommen oder abgeschoben werden. Die haben dort richtige Märkte gebaut, Kioske, Backstuben, dort wird afghanisches Brot gebacken und verkauft.
Eine richtige kleine Stadt.
Als ich da war, waren es knapp 20.000 Menschen, mittlerweile mehr, seit die Türkei die Grenzen geöffnet hat. Ursprünglich war das Camp für 3.000 gebaut worden.
Das Projekt, das sie dokumentarisch begleitet haben, versucht, vor Ort zu helfen.
Ja, das ist ein Programm der University of Southern California, das es seit zwei Jahren gibt. Die Studierenden haben etwa ein Zelt entwickelt, das besser isoliert. Im Winter wird es richtig kalt dort, stürmisch und nass. Dadurch werden die Menschen schnell krank.
Gibt es eine Campwache?
Ja, schon, aber mittlerweile nur noch im offiziellen Teil. Da kann man auch nicht einfach rein und raus, es ist abgezäunt gegen das große Camp, wie ein Gefängnis. Aber in den äußeren Teil kannst du einfach rein. Es gab mal Wachen, aber jetzt zu Corona-Zeiten wurden die abgezogen und das Camp sich selbst überlassen.
Führt das zu Problemen?
Es gab ein Mädchen im Camp, mit dem ich Kontakt hatte, der ich auch ein Handy geschickt hatte. Sie hatte ihre Eltern auf der Flucht verloren. Sie hat mir erzählt, dass sie richtig Angst hat im Camp, weil wieder eine Messerstecherei war zwischen Teenagern. Auch ein Kind sei gestorben. Natürlich macht man sich Sorgen, wenn man persönliche Beziehungen entwickelt.
Stehen Sie noch im Kontakt zu dem Mädchen?
Ja, Asma und ihr Bruder waren glücklicherweise bei den ersten zwölf unbegleiteten Kindern dabei, die Luxemburg Mitte April aufgenommen hat.
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