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Kabinettsumbau in der UkraineSelenskyj mischt die Regierung auf

Vier Minister und zwei Vizeregierungschefinnen treten zurück, auch Chefdiplomat Dmitri Kuleba. Was bezweckt Präsident Selenskyj mit dem Umbau?

Frischer Wind für die Regierung? Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Foto: Evgeniy Maloletka/ap

BERLIN taz | Die ukrainische Regierung wird kräftig durchgeschüttelt: Am Mittwoch reichte Außenminister Dmitri Kuleba (seit März 2020 im Amt) seinen Rücktritt ein. Das Parlament verschob die Befassung mit dem Gesuch auf einen späteren Termin. Bereits am Dienstag hatten drei Minister sowie die beiden stellvertretenden Regierungschefinnen Irina Wereschtschuk (Reintegration der temporär besetzten Territorien) und Olga Stefanischyna (europäische und euroatlantische Integration) diesen Schritt vollzogen.

Laut des ukrainischen Nachrichtenportals Ukrainska Pravda (UP) stünden weitere Entlassungen bevor. Ähnlich hatte sich auch der Fraktionschef der Partei Diener des Volkes, David Arachamija, geäußert. Ihm zufolge sei etwa die Hälfte des Personals im Kabinett betroffen.

Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte das „Kaderkarussell“ am Dienstag in seiner allabendlichen Videoansprache kommentiert. Es sei nötig, einige Arbeitsbereiche der Regierung zu stärken. Der Herbst werde für die Ukraine kritisch sein und die staatlichen Institutionen müssten so aufgestellt sein, dass die Ukraine ihre Ziele erreiche. Bestimmte Bereiche der ukrainischen Innen- und Außenpolitik müssten anders gewichtet werden, sagte Selenskyj. Diese Ausführungen dürften kaum für Klarheit gesorgt haben.

Es ist nicht das erste Mal seit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg am 24. Februar 2022, dass Selenskyj In­ha­be­r*in­nen von Spitzenpositionen austauscht. Zum Erstaunen vieler Ukrainer*innen, aber auch ausländischer Be­ob­ach­te­r*in­nen hatte er im vergangenen Februar den Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, von seinem Posten abberufen und durch Oleksandr Syrskyj ersetzt.

Treffen mit Biden

Allgemein wird erwartet, dass Kuleba und die anderen zurückgetretenen Mi­nis­te­r*in­nen auf andere Posten innerhalb des Kabinetts rotieren. Laut des US-Senders CNN könnte hinter dem Umbau die Absicht Selenskyjs stehen, das „neue Team“ vor seiner Reise in die USA zusammenzustellen, die noch in diesem Monat stattfinden wird.

Er wird in New York an der Generalversammlung der Vereinten Nationen teilnehmen und voraussichtlich mit US-Präsident Joe Biden zusammentreffen. In der vergangenen Woche hatte Selenskyj gesagt, er wolle Biden einen neuen vierteiligen „Siegesplan“ vorlegen, weitere Einzelheiten nannte er nicht.

Der ukrainische Politikwissenschaftler Mykola Dawydiuk, den CCN zitiert, vermag innerhalb der Regierung keine größeren Meinungsverschiedenheiten zu erkennen. Stattdessen sei Selenskyj offensichtlich darum bemüht, ein Signal zu senden, dass er der Regierung neue Energie verleihe.

Selenskyj habe jetzt die Gelegenheit für eine Regierungsumbildung genutzt. „Der Westen kann Selenskyj jetzt nicht kritisieren, weil er selbst viele innenpolitische Probleme zu bewältigen hat – die US-Wahlen sowie Wahlprobleme in Deutschland und Frankreich“, so Dawydiuk.

Eine ukrainische Journalistin setzt die jüngsten Personalrochaden Selenskyjs mit dessen Regierungsstil gleich. Auch Personen, die sich als kompetent erwiesen hätten, könnten ihres Postens verlustig gehen.

Tote in Lwiw

Unterdessen gehen russische Angriffe auf die Ukraine mit unverminderter Intensität weiter. Nachdem am Dienstag beim Beschuss der zentralukrainischen Stadt Poltawa mindestens 53 Menschen getötet und weit über 200 verletzt worden waren, traf es am Mittwoch die westukrainische Stadt Lwiw. Infolge von Angriffen mit Raketen und Kamikazedrohnen waren sieben Tote zu beklagen, darunter eine Mutter und ihre drei Töchter, nur der Familienvater überlebte.

Der Chef der regionalen Militärverwaltung Lwiw Maxim Kozitsky berichtete von 64 Verletzten. Neben Wohngebäuden sowie Bildungs- und medizinischen Einrichtungen seien im historischen Teil von Lwiw, der zum Unesco-Welterbe gehört, auch sieben Denkmäler beschädigt worden.

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