Justiz-Ungleichheit in Pakistan: Freikauf durch „Blutgeld“
In Pakistan hängt die Rechtssprechung bei Vergehen mit Todesfolge von Macht und Reichtum ab. Im Internet begehren die Menschen dagegen auf.
Leider ist Pakistan ein Himmelreich für Reiche und Mächtige und die Hölle für Arme“, lautet ein Post auf der Plattform X. „Pakistans Justizsystem ist wie ein Spinnennetz. Die Schwachen bleiben drin stecken, die Starken brechen es auf“, heißt es bei Facebook. In den sozialen Medien Pakistans herrscht Aufruhr wegen eines tragischen Unfalls mit Fahrerflucht.
Am 19. August fuhr Natasha D. in der Metropole Karatschi mit stark überhöhter Geschwindigkeit mit ihrem Geländewagen einen Vater und seine Tochter um, die auf einem Motorrad unterwegs waren. Der 60-jährige Imran Arif und seine 22-jährige Tochter Amna Arif wurden von D.s Auto zerquetscht und starben noch am Unfallort.
Zuvor hatte die Fahrerin schon zwei andere Autos gerammt und vier Personen verletzt. Jetzt wurde sie bei ihrem erneuten Fluchtversuch festgehalten. Die Polizei wurde hinzugerufen. In Pakistan fordern Verkehrsunfälle jedes Jahr Tausende Menschenleben. Das Besondere an diesem Unfall ist, dass die Fahrerin einer sehr wohlhabenden und einflussreichen Familie angehört. Dies schürt Ängste, dass die Frau einer Bestrafung entgehen könnte.
Netizens – also „Bewohner des Internet“ – verfolgen diesen Unfall und das Gerichtsverfahren deshalb sehr aufmerksam, weil sie befürchten, dass die Fahrerin wegen ihres Geldes und ihrer Macht einer Anklage entgehen wird. Die Polizei hat Transparenz und Gerechtigkeit versprochen und dafür ein Team von Sonderermittlern gebildet, da es sich um einen sehr „hochkarätigen“ Fall handelt.
50.000 Euro „Blutgeld“ für zwei Tote
Nach ersten Ermittlungen und Auswertungen von Überwachungskameras wurde festgestellt, dass D.s Auto mit einer geschätzten Geschwindigkeit von 100 km/h fuhr, obwohl dort nur 30 erlaubt war. Die Geschwindigkeit war wohl eine Hauptursache des tödlichen Unfalls. Demnach müsste D. mit einer Haftstrafe von acht bis zehn Jahren rechnen. Doch ihr Anwalt erklärte, dass ihre Familie den Familien der Verstorbenen und Verletzten Diya (Blutgeld) in Höhe von umgerechnet 21.000 Euro für jeden Getöteten geboten hat.
Diya ist eine finanzielle Entschädigung, bei der sich ein Angeklagter nach islamischem wie pakistanischem Recht durch Geldzahlung an Hinterbliebene eines von ihm Getöteten oder Verletzten freikaufen kann. Doch dürfen dafür die Hinterbliebenen nicht unter Druck gesetzt oder gar gezwungen werden, die Diya zu akzeptieren. Im Jahr 2011 nutzte es auch der US-Diplomat und mutmaßliche CIA-Agent Raymond Davis, um einer Mordanklage zu entgehen, nachdem er zwei Pakistaner erschossen hatte.
Unfall unter Drogeneinfluss
Ein weiterer viel beachteter Fall ist der eines jungen Mannes, der im Streit seinen Freund getötet hatte. Die reiche Familie des Täters setzte Berichten zufolge die des Opfers unter Druck, gegen Geld die Mordanklage zurückzunehmen. Der Täter soll heute luxuriös im Ausland leben. Es gibt viele weitere Beispiele. Oft üben sogar Polizei und Justiz Druck aus, das Diya-Geld anzunehmen.
Im aktuellen Fall von D. vermuten Netizens wie Unfallzeugen, dass sie offenbar unter Drogeneinfluss stand. In den sozialen Medien kursiert ein Video, in dem D. ein Verhalten zeigt, das diesen Verdacht aufkommen lässt. Darin sagt sie grinsend: „Du kennst meinen Vater nicht.“
Andere erklärten gegenüber der Polizei, dass D. unter psychischen Problemen leide und deshalb in einem Krankenhaus behandelt werde. Auch sei ihr ungewöhnliches Verhalten auf den Schock und das Trauma des Unfalls zurückzuführen. Die Polizei erklärte, sie lasse eine Blutprobe untersuchen. Die erste psychologische Untersuchung im Polizeigewahrsam habe aber keine anhaltende psychologische Krankheit erkennen lassen.
Noch ist offen, ob in D.s Fall Polizei und Justiz Pakistans wachsende „Elite-Kultur“ eindämmen und Opfern zu Gerechtigkeit verhelfen können, oder ob Mächtige und Reiche sich einfach freikaufen können.
Aus dem Englischen Sven Hansen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Die Linke im Bundestagswahlkampf
Kleine Partei, großer Anspruch
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Pro und Contra Letzte Generation
Ist die Letzte Generation gescheitert?