Jurist über israelische Regierung: „Gewaltenteilung ist bedroht“
Die neue Regierungskoalition in Israel steht. Adam Shinar sorgt sich um geplante Rechtsreformen. Liberale Werte stehen auf dem Spiel.
taz: Herr Shinar, wie besorgt sind Sie angesichts der neuen Regierung in Israel?
Adam Shinar: Sehr. Wir werden eine Eskalation in den besetzten Gebieten erleben, die Legalisierung von Außenposten, eine Verschärfung der Besatzung, die noch brutaler werden dürfte. Und mir als Juraprofessor – aber auch als einfachem Israeli – machen natürlich auch besonders die geplanten juristischen Reformen Sorgen.
Eine dieser heftig umstrittenen Reformen soll die Einführung der sogenannten Außerkraftsetzungsklausel sein.
Ja, sie würde es dem israelischen Parlament ermöglichen, das Oberste Gericht zu überstimmen, wenn dieses ein Gesetz als verfassungswidrig zurückweist. Wenn also das Oberste Gericht ein Gesetz aufhebt, weil es gegen eines der Menschenrechte verstößt, das in den Grundgesetzen verankert ist, kann die Knesset über diese Entscheidung hinweggehen und das Gesetz verabschieden. Das heißt, der Schutz der Menschenrechte wird vollständig vom Willen der Mehrheit abhängig sein.
ist Professor für Verfassungsrecht an der Radzyner Law School der Reichman-Universität Herzliya.
Gerade in Israel ist das problematisch, weil es hier ohnehin ein sehr schwaches System der Kontrolle und Gegenkontrolle gibt. Wir haben kein föderales System. Wir haben nicht zwei Häuser des Parlaments, sondern nur eins. Wir sind nicht dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unterstellt. Es gibt einzig die Instanz des Obersten Gerichts, das die Entscheidungen des Parlaments überprüft. Die Schwächung des Gerichts bedeutet, dass die Gesetzgebung – also die Regierung, die die Gesetzgebung am Ende kontrolliert – die absolute Macht hat. Das ist ein sehr, sehr ernstes Problem.
Viele sprechen davon, dass Israel damit auf dem Weg ist, zu einem Staat à la Ungarn oder Polen zu werden.
Polen und Ungarn sind gute Beispiele für das, was hier passieren könnte: nämlich die Aushebelung der Gewaltenteilung, wie unter Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński. Damit kann die Fidesz-Partei in Ungarn machen, was sie will.
So haben sie zum Beispiel das Rentenalter der Richter gesenkt. Auf diese Weise wurden sie all die älteren Richter los, die der vorherigen Grundordnung verpflichtet waren. Und nachdem sie diese Richter losgeworden waren, ernannten sie ihre eigenen Richter, die im Grunde genommen jede Politik, die sie wollten, absegneten. Sie haben die Kultur- und Medienlandschaft verändert und öffentliche Institutionen zu Orbán-Institutionen gemacht. Legitimiert wird dies, hier wie dort, damit: Wir haben die Mehrheit. In Israel ist derzeit die Rede davon, dass möglicherweise der staatliche Fernsehsender Channel 11 – ein Sender, der angeblich die Rechte nicht ausreichend repräsentiert – geschlossen wird.
Itamar Ben-Gvir, der wegen Unterstützung einer rechtsterroristischen Organisation verurteilt wurde, soll als Minister für Nationale Sicherheit politische Kontrolle über die Polizei bekommen.
Ja, das bläst ins selbe Horn, die Polizei soll dem Minister für Nationale Sicherheit untergeordnet werden. Das Gesetz dazu muss noch verabschiedet werden, aber niemand zweifelt daran, dass es durchkommt. Der Gesetzentwurf ist sehr vage formuliert, wohl mit Absicht, um Kritik abzuwehren. Aber im Prinzip könnte es ein Instrument sein, um politische Feinde des Ministers herauszufiltern und gegen die einen vorzugehen und gegen die anderen nicht. Ben-Gvir könnte damit beispielsweise entscheiden, dass Ermittlungen gegen Siedlergewalt oder Korruption nicht priorisiert werden sollten.
Stattdessen könnte er entscheiden – ein Extremfall, aber möglich –, es dürfen keine Demonstrationen mehr in der Nähe der Balfour-Straße veranstaltet werden, dort, wo die großen Anti-Netanjahu-Demonstrationen seit zwei Jahren stattgefunden haben. Die Polizei wäre, wenn politisch kontrolliert, nicht mehr in der Lage, den Menschen ohne Unterschied der Hautfarbe, der Religion, des Geschlechts zu dienen – und es besteht ein sehr ernstes Risiko, dass die Polizei nicht mehr so unabhängig ist wie bisher.
Immer wieder kommt unter Kritiker*innen der neuen Regierung das Wort „Theokratie“ auf. Ist das übertrieben?
Wer weiß, ob das übertrieben ist. Ich meine, Israel hatte schon immer Züge einer Theokratie, weil viele Aspekte in Israel religiös geregelt sind. Eheschließungen und Scheidungen zum Beispiel – in Israel gibt es ja keine zivilen Ehen. Öffentliche Verkehrsmittel fahren hier fast nicht am Schabbat. Wer in religiösen Schulen die Tora studiert, ist vom Armeedienst befreit. Es gibt keine klare Trennung zwischen Religion und Staat.
Jetzt mit der neuen Regierung gibt es Diskussionen über Geschlechtertrennung auf öffentlichen Plätzen und bei öffentlichen Veranstaltungen. All diese Dinge gab es auf die eine oder andere Weise bereits in Israel, aber sie werden wohl ausgeweitet. Noch sind die Säkularen in der israelischen Gesellschaft in der Mehrheit, aber sie haben nicht mehr viel politische Macht: Die Mehrheit in der Regierungskoalition sind Religiöse. Zum ersten Mal in Israels Geschichte.
Was werden die Folgen sein?
Die neue Koalition ist von religiösen und nationalen Interessen angetrieben und das wird wohl Einfluss auf die Erziehungs- und die Schulpolitik haben, auf die Einwanderungspolitik, also auf die Frage, wer als Jude akzeptiert wird und einwandern darf. Ich glaube, dass wir weiter, ob Mann oder Frau, in kurzen Shorts durch Tel Aviv laufen dürfen, wir nähern uns nicht einem Gottesstaat wie in Iran an und sind wohl weit davon entfernt, dass Frauen eine religiöse Kopfbedeckung tragen müssen. Aber es wird auf andere Weise schwierig werden.
Die politische Macht der Säkularen wird sehr stark eingeschränkt sein. Gelder werden nun eher in Richtung Siedler und für religiöse Programme geleitet werden als in liberale Programme. Liberale Werte werden darunter sicher leiden und weniger gedeihen. In vielerlei Hinsicht wird sich mein eigenes Leben wahrscheinlich nicht allzu sehr verändern, aber um meine Kinder und die Erziehung, die sie in den Schulen bekommen werden, mache ich mir durchaus Sorgen.
Viele Kritiker*innen spielen mit dem Gedanken, das Land zu verlassen. Sie auch?
Wir sprechen manchmal darüber. Aber ich habe noch keine rote Linie, an der ich sage: Ich gehe. Zumal es sich ja eher so abspielt, dass es eher eine Menge von kleinen Dingen gibt, die sich summieren, aber bei denen es schwer ist, eine rote Linie zu bestimmen. Es ist wie mit dem Frosch, den man in einem Aquarium auf die Heizung stellt. Man spürt, dass es wärmer wird, aber es ist nicht schrecklich. Und wenn man merkt, dass das Wasser kocht, ist es zu spät. Wann merkt man, dass es nicht mehr nur warm ist, sondern sehr heiß? Ich weiß es nicht.
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