Junge Rekruten für den Dschihad: Angehörige bleiben ratlos zurück
Für religiöse französische Jugendliche sind Syrien und Irak derzeit „places to be“. Dort kämpfen sie nach eigenem Verständnis für Gerechtigkeit.
PARIS taz | In keinem anderen europäischen Land rekrutieren die syrischen und irakischen Rebellen so viele Freiwillige für den Dschihad wie in Frankreich. Laut Untersuchungsrichter Marc Trévidic von der Pariser Antiterrorbehörde handelt es sich bei den heute via Internet oder in bestimmten Moscheen Rekrutierten bereits um die „zweite Welle“: Die Ersten, die ab 2012 nach Syrien gegangen sind, holen nun ihre Freunde und Bekannten nach.
Etwa 80 sind enttäuscht heimgekehrt, mindestens 21 sind umgekommen. Das hat aber andere, die voller Illusionen über einem gerechten Krieg oder Märtyrertod sind, kaum abgeschreckt und zur Räson gebracht.
Derzeit wird die Zahl der Franzosen und Französinnen in den Reihen der islamistischen Milizen in Syrien und Irak auf 900 geschätzt. Das Phänomen nimmt beängstigende Ausmaße an. Anthony Borré, der im Auftrag der Stadtbehörden von Nizza einen Krisenstab leitet, spricht von einem „Virus“ der Indoktrinierung. Beim Ende April eingerichteten nationalen Notruf sind mehr als 300 Meldungen von besorgten Eltern oder Erziehern eingegangen, 70 davon betrafen Minderjährige.
Laut Le Monde sind zwei erst 15 und 17 Jahre alte Französinnen aus Tarbes (Hautes-Pyrénées) und aus der Region Lyon in letzter Minute gestoppt worden, bevor sie zusammen nach Syrien reisen konnten, wo sie sich dem Vernehmen nach dem Heiligen Krieg (Dschihad) der Terrormiliz IS anschließen wollten. Die 15-Jährige, die wegen ihrer Anorexie in Behandlung stand, wurde bereits polizeilich überwacht. Sie war zuletzt auch den Erziehungsbehörden aufgefallen, weil sie am Vorabend ihrer Abreise aus Panik einen Schwächeanfall erlitt und in der Folge ihr Vorhaben verriet. Aus Frust plante sie angeblich einen Anschlag auf eine Synagoge mit dem Jagdgewehr des Vaters.
Gegen die beiden ist vor dem Wochenende eine Ermittlungsverfahren wegen „krimineller Vereinigung mit terroristischen Absichten“ eingeleitet worden. Einer 14-Jährigen aus dem Pariser Vorort Argenteuil, die in Kontakt mit den andern beiden Jugendlichen stand, ist es im Juni gelungen, sich nach Syrien zu begeben; sie gilt seither als vermisst.
Suche nach den Motiven
An diesen Beispielen schockiert nicht allein das jugendliche Alter der Mädchen. Ziemlich ratlos stehen Angehörige und Behörden vor der Frage, aus welchen Motiven solche Halbwüchsigen dazu kommen, ihre Familie, ihre Freunde und ihr Leben in Frankreich aufzugeben. Politische und religiöse Begründungen erklären längst nicht alles.
Inzwischen häufen sich in den Medien die Berichte von verzweifelten Angehörigen junger Dschihadisten. Oft haben sie wohl angenommen, dass die Jungen, die sich vorher mehr für Drogen, Videospiele, Facebook oder Fußball interessierten, dank der Besuch einer Moschee endlich ernsteren Dingen zuwenden würden.
In vielen Fällen hatten sich jedoch die für den Heiligen Krieg rekrutierten Jungen bis kurz zuvor noch kaum je für die Religion oder politische Konflikte interessiert. Bei einem Teil handelt es sich um Konvertiten, deren Eltern konfessionslos oder nicht praktizierende Muslime sind.
Im Gefängnis überzeugt
Bekannt ist auch, dass eine beträchtliche Zahl der französischen Dschihadisten den Weg zum radikalen Islam im Gefängnis fanden, wo sie Strafen für kleinere Delikte verbüßten. Experten sind der Ansicht, dass viele Wege zur Radikalisierung führen und dazu nicht unbedingt ein gut organisiertes Netzwerk vonnöten ist.
Mit den militärischen Erfolgen von IS wächst nach Meinung des Sicherheitsexperten Pierre Conesa die Attraktivität des Engagements auf der Seite der fanatischen Rebellen: „Der islamistischen Propaganda ist es gelungen, ihren Islam als Religion der Verteidigung der Unterdrückten darzustellen“, meint der an der ENA-Hochschule dozierende Conesa. Für gewisse junge Dschihadisten aus Europa sei IS bereits ein Idol geworden wie für eine andere Generation Che Guevara.
Eine „romantische Verklärung“ der Realität des Kriegs macht auch der Soziologe Mohamed-Ali Adraoui in diesen jugendlichen Vorstellungen vom Heiligen Krieg aus. Für die religiös Motivierten sei Syrien heute schlicht „the place to be, um den Islam zu verteidigen. Repressive Maßnahmen reichen da nicht aus. Gefragt ist zur Prävention mehr Information und eine Debatte ohne Scheuklappen.
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