Jüdisches Neujahrsfest in der Ukraine: Pilgerfahrt wird zum Politikum
Tausende Juden aus Israel pilgern jedes Jahr in die Ukraine. Doch dieses Jahr hat Kiew die Grenzen dichtgemacht – auf Wunsch Jerusalems.
Mitunter, so lauten Gerüchte, gehe es in Uman wild zu: Von Drogen und Prostitution ist die Rede. Die Pilgerfahrt ist das bedeutendste Ereignis im Kalender der Breslauer Chassiden, so benannt nach dem Geburtsort ihres Rabbis. „Rak lismoach jesch“ lautet eines ihrer Mottos: Es gibt nur Glücklichsein.
Doch davon ist dieses Jahr vor dem Hintergrund der Coronapandemie wenig zu spüren. Die Breslauer Chassiden sind sauer. Yehoshua Nadav, der darum bittet, seinen echten Namen nicht zu erwähnen, ist einer von ihnen. Jedes Mal ist er in den vergangenen zehn Jahren mit tausenden anderen von Tel Aviv nach Uman geflogen.
Doch in diesem Jahr hat der israelische Coronabeauftragte Roni Gamzu angesichts der hohen Infektionszahlen in Israel die ukrainische Regierung gebeten, ein Einreiseverbot für Nichtstaatsangehörige zu verhängen. Ende August schloss die Ukraine die Grenzen.
Yehoshua Nadav, Pilger
„Ich bin gerade noch hineingekommen“, berichtet Nadav am Telefon aus Uman. Als er von der geplanten Grenzschließung erfuhrt, ist er sofort von Tel Aviv nach Kiew geflogen. Statt 30.000 befinden sich laut Nadav derzeit lediglich zwischen 1.000 und 2.000 Pilger in Uman: „Viele meiner Freunde haben es nicht mehr geschafft. Einige von ihnen warten nun an den Grenzen zur Ukraine darauf, doch noch hineingelassen zu werden.“
Netanjahu und Ultraorthodoxe auf Konfrontationskurs
Der Streit über die Pilgerfahrt hat in Israel eine Krise losgetreten. Viele der Breslauer Chassiden und mit ihnen die meisten Ultraorthodoxen schäumen vor Wut – nicht nur über Gamzu, sondern auch über den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, den sie für die Schließung der Grenzen verantwortlich machen.
Zum ersten Mal in der langjährigen Koalitionsgeschichte drohten ultraorthodoxe Communitys, Netanjahu nie wieder zu unterstützen. Für den innenpolitisch schwer angeschlagenen Netanjahu, der in drei Korruptionsfällen vor Gericht steht, wäre dies ein Desaster. Denn die ultraorthodoxen Parteien Vereinigtes Tora-Judentum und Shas waren bisher seine verlässlichsten Partner.
Risse bekommen hat das Verhältnis zwischen den Ultraorthodoxen und Netanjahu bereits während des Lockdowns zur ersten Welle der Coronapandemie. Ultraorthodoxe kritisierten ihre Parteien dafür, sich nicht energisch genug dafür einzusetzen, dass Synagogen und Jeschiwas geöffnet bleiben. Umso heftiger kämpfen die Parteien nun darum, das Vertrauen ihrer Wähler*innen wiederzugewinnen und die Massenreise nach Uman zuzulassen.
Im Versuch, sein Verhältnis zu den Ultraorthodoxen zu retten, kündigte Netanjahu die Bildung eines Komitees an, das eine Lösung ausarbeiten soll, wie die Breslauer Chassiden doch noch nach Uman fliegen können. Bislang ist dazu aber nichts bekannt geworden.
Stattdessen kam es am Sonntag zu einem Knall: Der ultraorthodoxe Wohnungsbauministers Yaakov Litzman trat zurück – aus Protest gegen den Lockdown, der ab kommenden Freitag in Kraft treten soll. Eine Abriegelung während der Feiertage werde „Hunderttausende von Juden aus allen Gesellschaftsgruppen daran hindern, in Synagogen zu beten“, begründete er seinen Schritt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?