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Jüdisches LebenWider die Abstumpfung!

Die Debatte über Antisemitismus braucht einen neuen Anfang, abgerüstet und sensibel. Jüdische Diversität anzuerkennen, ist dazu ein Schlüssel.

Zum Beginn des jüdischen Lichterfest wurde ein rießiger Chanukka-Leuchter in Berlin entzündet Foto: Stefan Zeitz/imago

F ür das Simon-Wiesenthal-Center zählt das Goethe-Institut zu den gefährlichsten antisemitischen Kräften weltweit, weil es sich mit anderen Kultureinrichtungen an einer Initiative gegen den Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs beteiligt. Das hat eine kafkaeske Note; doch wer nicht weiß, dass das Wiesenthal-Center eine parteiliche, rechte Lobby-Einrichtung ist, mag gleichwohl verunsichert sein. Eine Anschuldigung, die unter dem Namen des berühmten Überlebenden und Nazi-Jägers daherkommt, als Verleumdung zu bezeichnen, das bedarf eines inneren Rucks, der auch mir nicht leichtfällt.

Doch birgt dieser Vorfall gleichfalls etwas Gutes: Er markiert einen Endpunkt, der zum Wendepunkt werden könnte – werden muss. Denn solche irrigen Urteile, die sich eine aus der Schoah abgeleitete Autorität anmaßen, haben zunehmend Abstumpfung zur Folge. Ein Antisemitismusvorwurf bewirkt oft nur noch Schulterzucken, und das ist schlimm.

Um eine Wende einzuleiten, muss Sensibilität wieder eine Tugend werden. Die Anerkennung, dass es im eigenen Inneren die Möglichkeit antisemitischer Regungen gibt, sollte eine Voraussetzung für die Beteiligung am öffentlichen Gespräch sein. Wie für Rassismus gilt für Antisemitismus: Niemand ist per se immun. Und gerade in Deutschland ist die Pose eigener Unanfechtbarkeit nicht angebracht: Richter auf der rastlosen Suche nach weiteren zu Richtenden.

Über Israels Politik wird es keine Einigung geben, dennoch wäre eine moralische und geschichtspolitische Abrüstung der Debatte möglich. Folgendes Gedankenspiel mag dabei helfen: Würde die AfD eine Regierungsmehrheit in Deutschland erringen, bliebe die Außenpolitik, nach allem, was dazu absehbar ist, pro-israelisch. Zugleich würden Gedenkstätten die Etats gekürzt, von Schlimmerem nicht zu reden. Nähe zu Israels Regierung ist nicht gleichbedeutend mit Respekt für die Opfer, gar Antifaschismus. Differenzieren und entflechten wäre nützlich.

Streit um Zionismus

Das Streitthema Zionismus könnte zunächst besser bei den Volkshochschulen aufgehoben sein, denn es fehlt ja weithin an Wissen, woher spezifisch jüdische Einwände gegen Zionismus rühren können, geschichtlich oder heute, religiös oder politisch. Manche junge nichtjüdische Deutsche umarmen heute den Zionismus so wie früher ihre Eltern die Klezmer-Musik.

Das Bedürfnis dahinter mag ähnlich sein, aber seit damals haben sich zwei Dinge grundlegend geändert: Erstens ist es heute möglich, dass nichtjüdische Deutsche Juden des Antisemitismus bezichtigen; ein Tabubruch, der sich durch eine besonders enge Bindung an Israel zu legitimieren glaubt. Und zweitens existiert eine Palette jüdischer Haltungen, die man bei aller Vorsicht doch als Diversität bezeichnen kann. Beides hängt ganz offenkundig zusammen.

Jüdische Diversität entstand durch die Nachkommen von Zugewanderten aus der ehemaligen Sowjetunion wie von Juden der DDR auf eine akzentuiertere Weise, aber auch durch junge Israelis, die gegenwärtig nicht in Israel leben möchten – und die in Berlin, Stadt der Wannseekonferenz, glauben, freier atmen zu können. Menschen, die ihre eigene Identität mit einem idealisierten Israel-Bild verknüpfen, haben begreiflicherweise Mühe, solcher Art von Dissidenz mit Gelassenheit zu begegnen.

Dennoch stehen die Chancen, mit jüdischer Mehrstimmigkeit umgehen zu können, heute eigentlich besser als zuvor. Weil die Gesellschaft als ganze ihre Vielheitlichkeit anerkennt und mit sich selbst neue Erfahrungen macht. Und zu den neuen Erfahrungen könnte gehören: Juden und Jüdinnen haben verschiedene Meinungen und Haltungen, und jede einzelne ist wie die von jedem anderen Menschen kritisierbar.

Damit ist keine „Normalisierung“ gemeint, sondern ein Plädoyer für zivilgesellschaftliche Umgangsformen, die uns irgendwann in die Lage versetzen, Antisemitismus zu erkennen, indem wir ihn erspüren. Das nimmt uns keine Definition und kein Beauftragter ab. Wie es überhaupt – jenseits des gesetzlichen Verbots, den Holocaust zu leugnen – im deutschen Antisemitismus-Diskurs nicht mehr die eine, unanfechtbare moralische Autorität gibt.

Niederungen des Meinungskampfes

Auch der Zentralrat ist das nicht mehr. Eine Institution, in der sich Religiöses, Ethnisches, Politisches verbindet und widerspruchsfrei öffentlich positioniert, war im Land der Schoah gewiss lange notwendig, zumal jüdische Existenz im Nachkriegsdeutschland von der Judenheit anderswo zunächst keineswegs begrüßt wurde. Seitdem der Zentralrat aber jüdischen Stimmen, die aus seiner Sicht missliebig und israelfeindlich sind, das Jüdischsein abspricht, hat er sich selbst in die Niederungen des Meinungskampfs begeben.

Zwangsläufig entstehen allmählich andere Foren; es melden sich Journalisten, Philosophinnen, Schriftsteller zu Wort, die eine Ahnung vermitteln, welche Entwürfe von Jüdischsein es im 21. Jahrhundert geben kann. Ich empfinde es als ein großes unverdientes Geschenk, wenn wir einem öffentlichen innerjüdischen Gespräch zuhören dürfen oder uns gelegentlich daran beteiligen können.

Mein Optimismus, dass dies in Deutschland möglich ist, hat aber eine Voraussetzung: Dass wir als Mehrheitsgesellschaft Antisemitismus in Schach halten können. Weniges hat mich im zurückliegenden Jahr so erschüttert wie Bilder und Symbole aus der Bewegung der Coronaleugner. So also, an unvermutetem Ort, kann völkischer Antisemitismus aufreißen, zugleich uralt und brandneu, und durch die Legierung mit vorgetäuschtem Philosemitismus so furchtbar zeitgenössisch deutsch.

Deshalb noch einmal: Das Verheerende an einem inflationären Gebrauch des Antisemitismusvorwurfs ist, dass das Erschrecken schwindet. Und das Gespür für die Fragilität.

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9 Kommentare

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  • Was ist mit den jüdischen israelischen Akademikern, Künstlern, Musikern und Wissenschaftlern, die laut BDS boykottiert werden sollen? Und zwar egal, wie sie zur Regierung Israels stehen. Gehören die nicht auch zur "jüdischen Vielstimmigkeit"?



    Mit der "Nähe zu Israels Regierung" hat das überhaupt nichts zu tun.



    Mein Eindruck von der Autorin ist, dass sie selbst nur bestimmte Stimmen im Nahen Osten wahrnimmt und über sie schreibt, andere aber gern ignoriert. Was ist aber mit der Stimme z.B. eines iranischen Oppositionellen, wie Kazem Moussavi? Hier sein Artikel zur “Initiative GG5.3" . jungle.world/blog/...schen-republik-die

  • Sehr geehrte Frau Wiedemann,

    Sehr gerne würde ich fragen, was Sie unter „Zionismus“ verstehen.

    Ich wünsche Grüße & gute Gesundheit,



    OT

    • Paula , Moderatorin
      @OTracht:

      Lieber Leser, liebe Leserin,

      da ich Zionismus ja explizit als Streitthema bezeichnet habe, wäre es kaum sinnvoll, wenn ich mich hier in der Kürze auf eine Definition festlegen würde. Evangelikale Christen in den USA nennen sich aus anderen Gründen und mit anderen Motiven Zionisten als etwa die Teilnehmer des Basler Kongresses von 1897. Israel einen „zionistischen Staat“ zu nennen, ist für manche positiv konnotiert, für andere negativ. In Deutschland wird neuerdings Zionismus oft schlicht mit Judentum gleichgesetzt, was natürlich falsch ist. Für die von mir angesprochene jüdische Kritik am Zionismus und überhaupt für Hintergrund zum Thema lese ich gerade mit Gewinn das Buch „Im Namen der Thora. Die jüdische Opposition gegen den Zionismus“ von Yakov. M. Rabkin.

      Mit besten Grüßen

      Charlotte Wiedemann

      • @Paula:

        (3) Wenn Sie dann die Forderungen und Vorstellung von Theodor Herzl lesen, werden sie merken, dass Zionismus und Pro-palästinensische Autonomie sich nicht nicht ausschließen und keine Gegensätze sind.



        In der aktuellen Situation und mit der Hoffnung auf eine Zwei-Staaten-Lösung empfinde ich beide gar als komplementär.



        In anderen Worten: man muss wie ich finde nicht gegen Israel sein, um pro-palästinensisch zu sein und beim Zionismus-Begriff sollte man das Prinzip der Selbstdefinitionsfähigkeit achten.



        Grüße



        OT

      • @Paula:

        (2) Wenn Sie also mit Juden / Israeliten sprechen, würden sich die meisten als Zionisten bezeichnen - in dem vorhin erwähnten Sinne und völlig unabhängig von Evangelischen „Zionisten“ aus den USA und völlig unabhängig vom dem Nahost-Konflikt.



        Es gibt natürlich eine Minderheit innerhalb des Israelitentums, die der Meinung sind (und teilweise fundamentalistisch geprägt sind wie Neturei Karta, die an einer Shoa-Leugung-Konferenz teilnehmen) , dass sie zum Beispiel erst in das Land einziehen wollen, wenn der Messias kommt. Wenn diese Bewegung friedlich sind, sollte man sie wie ich finde natürlich achten, gleichzeitig sollte man dies jedoch wie ich finde nicht auf die Gesamtheit der IsraelitInnen projizieren - die wie Sie korrekterweise sagen divers sind und gleichzeitig die Mehrheit davon Zionisten sind.



        Wenn Sie also die Selbstdefinitionsfähigkeit von Individuen achten, hoffe ich, dass Sie die Sichtweise von der jüdischen / israelitischen Mehrheit auch berücksichtigen und nicht bei der öffentlichen Debatte diese Ansichten ausblenden - allzu oft wurden Juden / Israeliten aus der Debatte ausgeschlossen, und das gerade wenn es um sie ging:



        - siehe Kirchenväter, die die „Juden im Sinne Judas“ und als „Gottesmörder“ diffamierten und das Volk Israels wurde aus der Debatte ausgeschlossen



        - siehe spanische Inquisitore, die von „reinem Blut“ sprachen und Juden / Israeliten als „unrein“ entwürdigten und aus dem Land trieben



        - Siehe die Nazis, die in den „Nürnberger Rassengesetze“ bestimmt haben sollten, was die Definition von „Jude“ ist und somit Ziel für Entwürdigung und Mord



        Auch im Sinne der Selbstdefinitionsfähigkeit hoffe ich, dass Sie beim politischen Zionismus die ursprünglichen und grundlegenden Ansichten des Gründervaters T. Herzl berücksichtigen - hierzu kann ich sein Werk „Der Judenstaat“ oder beispielsweise Prof. Brenner empfehlen: youtu.be/kxriDaZZpVQ

      • @Paula:

        (1) Liebe Frau Wiedemann,

        Vielen Dank für Ihre Antwort. Dies empfinde ich als eine sehr nahbare Einstellung, dass Sie auf meine Frage so detailliert eingehen.

        Ich würde Sie weiterhin gerne fragen, ob Sie das Konzept der Selbstdefinitionsfähigkeit von Individuen kennen und achten? Zum Beispiel wenn eine Person, welche als Mann geboren ist und sich als Frau identifiziert, würden Sie persönlich die Identität dieser Person achten und sie als Frau bezeichnen?

        Genau so finde ich sollten wir mit dem Begriff des Zionismus umgehen.

        In der jüdischen / israelitischen Bibel, der Thora, ist die Identität des Volkes Israels eng mit dem Gebiet um Zion / Jerusalem verknüpft, wo deren Kultur Jahrhunderte lang in der Antike gelebt wurde - dies ist historisch / archäologisch gut belegt.

        Die Juden bzw. die Israeliten wurden von ca. 2.000 Jahren aus Judäa durch das römische Imperium vertrieben - das ist historisch belegt.

        Mitglieder der Volkes Israels wurden darauf in der Diaspora diskriminiert, ausgeschlossen, verfolgt, ermordet und zwangsmissioniert - das ist historisch belegt.

        Der Gedanke einer sicheren Heimat, wo man leben kann, wie man ist, und in Sicherheit beten kann und seine Religion ausleben kann, war daher schon vor und während der Diaspora durchgehend (!) relevant. In israelitischen Gebeten sehen wir es bis heute mit der Formel:



        ‎לשנה הבאה בירושלים



        „Im Nächsten Jahr in Jerusalem“

        Und auch in Hochzeiten zerbricht der Ehemann ein Glas symbolisch für die Zerstörung des israelitischen Tempels.

        Insofern ist der Gedanke an einer sicheren Heimat nicht nur eng verbunden mit den Erfahrungen der Diskriminierung in der Diaspora, sondern auch und allen voran mit dem menschlichen Bedürfnis, als souveränes und freies Volk unter allen Nationen als ebenbürtiges anerkannt zu werden. Der Zionismus ist meines Wissens ein essentieller und unerlässlicher Teil des Israelitentums / Judentums.

  • 9G
    90564 (Profil gelöscht)

    auch "jüdische" menschen können antisemitisches sagen oder gar antisemit!nnen sein, zb dan burros

  • hier mal ein spannendes seminar dazu:www.museumoftolera...atred-exposed.html