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Jüdisches Leben in DeutschlandKeine Sicherheit

Kommentar von Ruben Gerczikow

Brandanschläge auf Synagogen, antisemitische Parolen, großes Schweigen der vermeintlich Progressiven. Es bleibt ein Gefühl der Unsicherheit.

An der Synagoge am Fraenkelufer in Berlin hängen Plakate für die von der Hamas verschleppten Geiseln Foto: Jürgen Held/imago

S eit dem 7. Oktober 2023 erlebe ich, wie auch viele andere Jü­din­nen*­Ju­den unfreiwillig, wie Zeitreisen wohl aussehen könnten. Wir fühlen uns ins Jahr 2014 versetzt. In jenem Jahr fand die letzte Bodenoffensive der israelischen Verteidigungsstreitkräfte statt. Auch sie richtete sich gegen islamistische Terror­or­ga­ni­sa­tio­nen im Gazastreifen. Heute, fast ein Jahrzehnt später, leben wir in dem Schatten, den die schlimmsten Massaker an Jü­din­nen*­Ju­den seit der Schoah nach sich gezogen haben. Und es steht eine erneute Bodenoffensive bevor. Und ganz wie damals erstreckten sich die Auswirkungen dessen auf das jüdische Leben in Europa.

Bei Demonstrationen in Großbritannien, Frankreich oder Deutschland wird die antisemitische Gewalt der Hamas glorifiziert, für jüdische Einrichtungen gelten besondere Sicherheitsvorkehrungen, Jü­din­nen*­Ju­den geben sich nicht mehr als solche zu erkennen. In einer Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte von 2019 gaben neun von zehn der befragten Jü­din­nen*­Ju­den im Alter von 16 bis 34 an, dass der israelisch-palästinensische Konflikt ihr Sicherheitsgefühl in ihrem Heimatland beeinflusse.

Auf welche Weise dieses Sicherheitsgefühl beeinflusst wird, zeigt sich auch jetzt einmal wieder. Die Anzahl der antisemitischen Vorfälle in Deutschland ist in den letzten zwei Wochen enorm gestiegen. Betroffene berichten, dass sie sich von der Polizei nicht ernst genommen gefühlt haben oder ihnen nicht geglaubt wurde, wenn sie dort um Hilfe baten. Derartige Skepsis beruht auf der Erfahrung, dass Ermittlungen nicht selten eingestellt werden. Selbst wenn Straftaten vor Gericht verhandelt werden, wächst damit nicht unbedingt das Vertrauen in den Rechtsstaat.

Zu oft fehlt das Wort Antisemitismus

Der versuchte Brandanschlag auf die Synagoge in Wuppertal im Juli 2014 hat sich in das kollektive Gedächtnis der jüdischen Gemeinschaft eingebrannt. Genauso wie das Urteil des zuständigen Gerichts, das keine antisemitische Motivation sehen wollte. Ein Urteil, das sich in den vergangenen Jahren wiederholt hat. Zu oft fehlte das Wort Antisemitismus in Anklageschriften und Gerichtsurteilen.

Werden Gerichte im Jahr 2023 anders handeln? Wird sich die Geschichte wiederholen? Denn an das Urteil von Wuppertal dürften sich einige Jü­din­nen*­Ju­den erinnert haben, als sie von dem versuchten Anschlag mit Molotowcocktails auf Synagoge Kahal Adass Jisroel in Berlin-Mitte am 18. Oktober gehört haben.

Es ist eine den Alltag überlagernde Schwere der Unsicherheit, die die jüdischen Bür­ge­r*in­nen Deutschlands begleitet. Immer mit dem Wissen im Hinterkopf, dass eine große Anzahl Menschen in Deutschland und weltweit die humanitäre Notlage im Gazastreifen für ihren Antisemitismus instrumentalisiert. Ein Antisemitismus, der in Teilen muslimischer Commu­nitys hierzulande weit verbreitet ist, wie die Befragung des Berliner Büros des American Jewish Committees im Jahr 2022 zeigte.

Sie fordern, was gerade passiert

Zwischen dem Beginn der Terrorangriffe der Hamas am 7. und am 15. Oktober hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) insgesamt 202 antisemitische Vorfälle registriert. Davon wurde in 91 Prozent der Fälle israelbezogener Antisemitismus erkannt. Viel zu lange wurde diese Form des Antisemitismus in Deutschland wegerklärt und toleriert. Es wurde Jü­din­nen*­Ju­den die Solidarität entzogen.

Hiesige Debatten um die richtige Antisemitismusdefinition zeigten doch sehr eindrücklich, wie immer wieder niederträchtig die Behauptung aufkam, der israelbezogene Antisemitismus sei nicht von der politischen Kritik an Handlungen der jeweiligen israelischen Regierung zu trennen. Obwohl die Wissenschaft diese Behauptung regelmäßig widerlegte, setzte sich dieses Narrativ im Diskurs fest.

Viele angeblich progressive Räume werden von Menschen besetzt, die mit Parolen wie „From the River to the Sea“ oder „Yallah Intifada!“ genau das fordern, was gerade passiert. Sie interpretieren die Massaker als antiimperialistischen Freiheitskampf und machen sich gleichzeitig mit islamistischen und reaktionären Strukturen gemein. Das sind Strukturen, bei denen auch die deutsche Innenpolitik zu lange weggeschaut hat. Strukturen, die auch im Zuge von Vereinsverboten viel früher hätten zerschlagen werden können.

Für die Zukunft muss gelten, dass antisemitische Denkweisen in politischen Bündnissen konsequent widersprochen wird. Für die Zukunft muss gelten, dass der Staat antisemitische Strukturen rechtzeitig zerschlägt. Dafür darf es nicht erst über 1.400 ermordete Menschen in Israel brauchen, bis das umgesetzt wird.

Könnte ich tatsächlich in eine andere Zeit reisen, dann würde ich in eine friedlichere Zukunft reisen wollen. Eine, in der Anti­semitismus als gesellschaftliches Problem verstanden wird. Und doch weiß ich, dass eine andere Zukunft nur bedingt möglich sein wird. Denn anders als es häufig in politischen Reden behauptet wird, hatte und wird Antisemitismus immer einen Platz in dieser Gesellschaft haben.

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10 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • "Hiesige Debatten um die richtige Antisemitismusdefinition zeigten doch sehr eindrücklich, wie immer wieder niederträchtig die Behauptung aufkam, der israelbezogene Antisemitismus sei nicht von der politischen Kritik an Handlungen der jeweiligen israelischen Regierung zu trennen. Obwohl die Wissenschaft diese Behauptung regelmäßig widerlegte, setzte sich dieses Narrativ im Diskurs fest."

    Niederträchtig ist ein auffälliges Wort im öffentlichen Diskurs. Zumal im Artikel und nicht in den Kommentaren.

    Ich muss mich leider outen: ich verstehe den Unterschied zwischen israelbezogenem Antisemitismus und der politischen Kritik an Handlungen der jeweiligen israelischen Regierung nicht.

    Empirisch nehme ich nur wahr, dass Kritik an der israelischen Politik und der Besatzung häufig als antisemitisch bezeichnet wird. Ich würde das gern auch für mich selbst wissen. Wann bin ich antisemitisch? "Die Wissenschaft" ist eine ungenaue Angabe. Nicht gerade wissenschaftlich.

  • Danke für Ihren Kommentar. Sie und alle jüdischen Menschen haben meine volle Solidarität. Es schockiert mich, wie der eindeutige Antisemitismus, der hinter dem Hamas Aufruf steckt, jüdische Menschen und Einrichtungen weltweit anzugreifen, so wie die darauf erfolgten Taten nur punktuellen Protest auslösen. Dabei braucht es jetzt eine laute Mehrheit, die Bedrohungen und Gewalt lautstark verurteilen, aber auch im Kleinen in der Nachbarschaft jüdische Menschen mit Solidarität unterstützt. Und zwar unabhängig davon, welche Meinung man zum Nahostkonflikt hat.

  • Das wird auch in Zukunft nicht passieren.



    Gerade gestern gab es in meiner Stadt eine grosse Demo für Palästina.



    Mit dabei die bekannten Gesichter aus der linken Szene.



    Kein Wirt zu den Mirden in Usrael. Kein Wort zu den jüdisch gekennzeichneten Häusern.

    Die Zshl der Nazis ist ins Unfassbare gewachsen.



    Politisch gibt es ausser Sprechblasen nichts..

  • Um die Solidarität mit Jüdinnen und Juden ist es leider schlecht bestellt. Leute aus dem Kulturbetrieb oder andere Prominente, die sich normalerweise sofort äußern, wenn es etwa um Rassismus oder Misogynie, Homophobie oder andere Diskriminierungen geht, bringen jetzt die Zähne auseinander:

    "Einfach zwei, drei liebevolle Sätze schreiben, ein wenig Mitgefühl zeigen, dem Hass widersprechen: DIE WELT hat eine Reihe Promis gefragt, die gerne ihr „Gesicht zeigen“, wenn es gegen rechts geht. Die Islamo-Faschisten der Hamas werden offenbar eher „links“ verortet, es regnete Absagen. Sie kamen von Großmäulern wie Jan Böhmermann und Kleinformaten wie Rezo, von Leisetretern wie Enissa Amani und Lautsprechern wie Kraftclub und K.I.Z., von Gefühlsverdusselten wie Lars Eidinger und Multimillionären wie Marius Müller-Westernhagen. Gesicht zeigen? Gegen Judenhass? Das wagen 4 von 25. "

    Abseits vom offiziösen Mainstream von Politik, Gewerkschaften und Kirchen etc. sieht es mehr als mau aus. Diese Kälte, Empathielosigkeit, vielleicht ist es auch Schiss, ist ein Schlag ins Gesicht der Jüdinnen und Juden.

    www.ruhrbarone.de/...s-schweigt/225362/

    • @Jim Hawkins:

      Warum sollten sich einige der Genannten ausgerechnet gegenüber der Springerpresse äußern die sie ansonsten nur diffamiert wo sich die Gelegenheit bietet ? Ich würde mich auch nicht auf die rechte Brandstifterpresse einlassen. Viele reden mit denen Grundsätzlich nicht, was auch gut so ist. Wie so oft, übers Ziel hinausgeschossen.

      • @Andreas J:

        Inwiefern werden Lars Eidinger, die Nationalmannschaft, Lars Winterscheidt, Westernhagen oder Böhmermann von der Springer-Presse diffamiert?

        Was diesen Krieg und diesen antisemitischen, menschenfeindlichen Terror angeht, da ist mir die konservative Presse ehrlich gesagt lieber als die linke und linksliberale.

        Mit Ausnahmen natürlich. Etwa der Jungle World oder Konkret.

        • @Jim Hawkins:

          Eidinger und Westernhagen sind eh Luftnummern. Ob die was sagen ist völlig belanglos. Böhmermann oder K.I.Z. werden von Springer angegriffen sobald sich eine Gelegenheit bietet. Springer ist ja wohl auch Bild und die als bürgerliche Presse zu bezeichnen ist lächerlich.

    • @Jim Hawkins:

      Das erlebe ich auch so.

  • Auch wenn ich hier eine "politische Rede" raushaue, wie am Ende erwähnt, will ich doch betonen, dass es unsere verdammte Pflicht ist, die jüdische Bevölkerung zu schützen. Antisemitismus hat nunmal keinen Platz in der Gesellschaft. Jeder Millimeter, den wir abweichen, ist ein Sieg für den Terrorismus. Nach über 1000 Jahren Völkermobbing und leider auch -morden, müssen wir das nunmal kapieren.

    Ich zeige gerne auf eine funktionierende Welt, in der Moslems und Juden in Frieden miteinander leben. In der Juden unbeschwert eine Kippa tragen dürfen und Moslems mit Hilfe von Steuergeldern Moscheen bauen dürfen. Leider heißt der Fleck nicht Israel, sondern New York.

  • Die "Konservativen" die gerade mal wieder ganz rechts angekommen sind, haben ja schon die alleinigen Schuldigen gefunden, antisemitische Migranten, die man am besten gleich rauswirft und dann wäre Biodeutschland vom Antisemitismus befreit.



    Selbst ein Chrupalla hält staattragende Reden gegen Antisemitismus, während im fauligen Kielraum der AgD weiter von Globalisten geraunt wird.



    Auf den unteren Ebenen der Altparteien findet man von rechts bis links auch dies Geraune, die oberen halten sich momentan etwas zurück.



    Um so wichtiger ist es auch, dass man antisemitische Strukturen zerschlägt und auch die Parteien sanktioniert die sowas in ihren Reihen tolerieren.

    Was mich auch noch mal interessiert, seit wann jüdische Einrichtungen und in welchem Umfang geschützt werden müssen, als eine Art Gradmesser der Bedrohung.



    Bei uns gab bis 2000 nur eine Art Behelfssynagoge mit Beträumen im Obergeschoss, die als solche von außen kaum erkennbar war. Vor dem Neubau, der näher am Zentrum liegt, stehen seit Eröffnung Streifenwagen, seit neuesten auch Zivilwagen in den umliegenden Seitenstraßen, (ich vermute mal um Angreifer schon im Vorfeld abfangen zu können).