piwik no script img

Jüdische Sprache in FrankenScholem Alechem in der Medine

Lachoudisch ist die vergessene Sprache der fränkischen Juden. Das kulturelle Erbe von über 400 Jahren ist vom Aussterben bedroht.

Die 1877 erbaute und 1939 abgebrochene Synagoge von Schopfloch Foto: Foto/Repro: Jim Tobias

Besucht man Oswald Czech an seinem Arbeitsplatz im Rathaus der Marktgemeinde Schopfloch, dann kann es einem passieren, dass man mit einem freundlichen „Joufn Bauker“ begrüßt wird. Jedenfalls wenn man am Vormittag vorbeikommt. Denn statt „Guten Morgen“ sagt man in Schopfloch gerne „Joufn Bauker“. Und Oswald Czechs Amtsbezeichnung lautet zwar offiziell Bürgermeister, aber für die alteingesessenen Bürgerinnen und Bürger ist er der „Schoufet“.

Die kleine mittelfränkische Marktgemeinde Schopfloch, die ziemlich genau in der Mitte zwischen Nürnberg und Stuttgart an der bayerisch-württembergischen Grenze liegt, ist die letzte Sprachinsel, auf der noch Lachoudisch gesprochen wird – ein Relikt der reichhaltigen jüdischen Kultur, die die Region jahrhundertelang geprägt hat.

Die Gemeinde heißt in Schopfloch „Medine“, zum Neujahrsfest wünschen sich die Bauern statt „Glück und Segen“ „Massl Brouche“ und ihre Schweine nennen sie „Kaserem“. Und wer beim Bäcker ein Brot kaufen möchte, verlangt einen Laib „Läechem“. Doch auch in Schopfloch ist Lachoudisch inzwischen vom Untergang bedroht.

Mittlerweile gibt es weltweit wohl nur noch eine Handvoll Menschen, die dieses wundersame und fast vergessene Idiom als ihre Muttersprache bezeichnen. Bald könnte ­Lachoudisch ausgestorben sein – nach über 400 Jahren.

Immer eine Geschichte der Verfolgung

Der Name Lachoudisch lässt sich einerseits vom jiddischen Wort für Sprache ableiten: „Loschn“. Andererseits als Verballhornung von „haKodesch“, dem hebräischen Wort für „heilig“. Lachoudisch besteht vor allem aus hebräischen Wörtern, der Rest stammt aus dem Jiddischen beziehungsweise wurzelt im Fränkischen oder der Gaunersprache Rotwelsch. Um die Ursprünge des Lachoudischen zu finden, muss man tief in die deutsche Geschichte eintauchen, die leider immer auch eine Geschichte der Verfolgung der Juden ist.

Die ersten Jüdinnen und Juden kamen vermutlich mit den römischen Legionen nach Mitteleuropa. Als erster schriftlicher Beleg für die Existenz einer jüdischen Gemeinde auf dem Gebiet des heutigen Deutschland gilt bekanntlich ein Dekret Kaiser Konstantins an den Stadtrat von Köln aus dem Jahr 321. Jahrhundertelang lebten Christen und Juden weitgehend friedlich zusammen.

Erst zum Ende des 11. Jahrhunderts begann mit den christlichen Kreuzzügen gegen die Araber im Orient auch die systematische Verfolgung der jüdischen Minderheit im Abendland. So gab es insbesondere in Städten entlang des Rheins zahlreiche Massaker. Überlebende dieser Kreuzzugspogrome flüchteten nach Osten oder siedelten sich in Franken an. So sind ab der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts jüdische Gemeinden etwa in den Reichsstädten Würzburg und Nürnberg nachweisbar.

Doch schon bald folgten neue Massaker: die sogenannten Rintfleischpogrome von 1298, benannt nach dem gleichnamigen Anführer, und die Pest­pogrome zwischen 1348 und 1350 mit Tausenden von Ermordeten. Zum Ende des Mittelalters wurden Jüdinnen und Juden endgültig aus den deutschen Städten vertrieben. Die wenigen Überlebenden fanden zumeist Zuflucht in ländlichen Regionen: In kleineren Gemeinden, bei Grafen oder Rittern, die in Opposition zu den Reichsstädten und Bistümern standen.

„Schmuser“ und „Simmiche“

So auch in Schopfloch. Dort ließen sich vermutlich bereits im 16. Jahrhundert Juden nieder, die aus der Reichsstadt Nördlingen vertrieben worden waren. Wie in vielen anderen fränkischen Gemeinden lebten und arbeiteten sie jahrhundertelang Seit’ an Seit’ mit der christlichen Mehrheit.

Daran erinnert etwa der im Jahr 1612 angelegte jüdische Friedhof. Über 300 Jahre lang fanden hier Mitglieder der jüdischen Gemeinde ihre letzte Ruhestätte – bis 1938. Da es Juden fast überall verboten war, landwirtschaftlichen Grund zu erwerben oder ein Handwerk zu betreiben, bestritten viele ihren Lebensunterhalt mit Handel, insbesondere mit Viehhandel.

Allerdings fanden die meisten Bauernmärkte samstags statt, am Schabbat war es jüdischen Händlern wiederum aus religiösen Gründen nicht erlaubt zu arbeiten. Deshalb beauftragten sie christliche Vermittler damit, ihre Geschäfte zu übernehmen, sogenannte „Schmuser“.

Durch diese enge Zusammenarbeit von Juden und Christen fanden zahlreiche Begriffe aus dem Lachoudischen Eingang in die Handelssprache. Wenn dem „Schmuser“ ein lohnendes Geschäft gelang, berichtete er stolz seinem jüdischen Auftraggeber über diese „Mezije“ (Schnäppchen), der diese gute Gelegenheit wiederum mit „Simmiche“ (Freude) zu Kenntnis nahm.

Ähnlichkeit zum Hebräischen

Gezählt wurde nach den Buchstaben des hebräischen Alphabets: „Olef“, „Bejs“, „Gimml“, „Dollet“, „Hej“, „Roof“ und so weiter. Auch die Namen vieler Fest- und Feiertage scheinen direkt aus dem hebräischen Kalender übernommen worden zu sein. „Rosche Schune“ ist Neujahr, Ostern heißt „Pessach“ und der Samstag ist selbstverständlich der „Schabbes“.

Bei den Monatsnamen gibt es ebenfalls eine frappierende Ähnlichkeit zum Hebräischen. Nach dem „Scharr“(Januar) folgt der „Addar“ (Februar), der „Nissn“ (März), der „Itter“ (April) und der Wonnemonat Mai heißt auf Lachoudisch „Schwan“.

Mehr als 300 Jahre lang prägten Jüdinnen und Juden Mittelfranken mit – bis die Nazis mit den Menschen auch ihre Sprache und Kultur nahezu ausrotteten. Alle jüdischen Einwohner von Schopfloch wurden in der Nazizeit vertrieben oder ermordet. Inzwischen gibt es praktisch niemanden mehr, der mit Lachoudisch als Muttersprache aufgewachsen ist.

Einer der letzten Native Speaker war der 2015 verstorbene Hans Rosenfeld. Er wurde 1926 als Kind jüdischer Textilunternehmer in Schopfloch geboren und musste 1937 mit seiner Familie vor dem Terror der Nazis fliehen – zunächst nach Argentinien, dann in die USA. Als Erwachsener reiste Hans Rosenfeld nach Krieg und Schoah immer wieder nach Franken, vor allem wegen der Sprache – für ihn war es der Klang seiner Kindheit, als ein Hund noch „Kejlef“ hieß und eine Katze „Schunress“.

Wenn er die vertrauten Worte hörte, wusste er, dass er zu Hause angekommen war, so schilderte es Rosenfeld wenige Jahre vor seinem Tod in einem Interview mit Tränen in den Augen: „Für mich ist ­Lachoudisch ein Stück Heimat, es ist wie die Wärme einer Mutter zum Kind.“

Die Sprache erhalten

Doch in Schopfloch gibt es noch eine Handvoll Menschen, die diese uralte Sprache retten wollen. Neben Schopflochs „Schoufet“ Oswald Czech gehört dazu auch Jutta Breitinger. Bis zu ihrer Pensionierung vor drei Jahren hat sie im Schopflocher Rathaus gearbeitet. Noch immer betreut sie den über 400 Jahre alten jüdischen Friedhof im Ort. Und sie setzt sich dafür ein, dass Lachoudisch nicht verschwindet. „Wenn ich mit meinen Enkeln spreche, dann versuche ich, ein paar lachoudische Wörter einzubauen. Dass die das auch ein bissel lernen. Doch es wird immer schwieriger, diese Sprache zu erhalten.“

Dass das Lachoudische es wert wäre, am Leben zu bleiben, daran gibt es auch für die Historikerin Monika Berthold-Hilpert vom Jüdischen Museum Franken keinen Zweifel: „Ja, es ist ein absoluter kultureller Verlust, wenn die Sprache verloren geht. Denn es ist nicht nur so, dass die Menschen, die diese Sprache gesprochen haben, vertrieben und ermordet wurden, sondern um was es heutzutage vor allem geht: Das kulturelle Erbe bewahren, damit es nicht irgendwann komplett verschwindet.“

Obwohl das Lachoudisch in Schopflocher Familien höchstens noch in Bruchstücken weitergegeben wird, glaubt Bürgermeister Oswald Czech fest daran, dass die Sprache nie ganz aussterben wird: „Ich bin ja Einheimischer und schon als Kind mit Lachoudisch aufgewachsen. Ich habe es nie beiseite geschoben. So 100, 200 Wörter werden wir schon lebendig halten können.“

Wer nun Lust bekommen hat, mehr über diese geheimnisvolle Sprache zu erfahren, der oder die kann einfach mal einen Ausflug nach Schopfloch machen. Mit etwas Glück kann man im örtlichen Gasthaus die letzten Lachoudischsprecher beim sonntäglichen Frühschoppen treffen und sie dabei belauschen, wie sie ein „Schäecher“ bestellen oder einen „Soreff“. Was es damit auf sich hat? Einfach nachfragen. Lechajm!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Ein interessanter Artikel!



    Jiddisch war mir natürlich ein Begriff und man kennt das ein oder andere Lied.



    Von Lachoudisch lese ich hier zum ersten Mal.



    Schön, ein neues Puzzleteil der jüdischen Identität innerhalb der deutschen Gesellschaft zu entdecken.



    Auch wenn das natürlich nur am Rande einen Bezug hat, ich habe gern die Bücher von Michel Bergmann gelesen, die das jüdische Leben im jetzigen Deutschland unterhaltsam beschreiben. Das gibt irgendwie Hoffnung.



    Mir fällt immer wieder auf, wie jüdisches Leben in Deutschland vermisst wird, oder besser gesagt, ich freue mich stets, wenn es, wie in diesem Bericht, Erwähnung findet.



    Danke!

  • Schön! Vielen Dank für diesen Beitrag.

  • Ein schöner Bericht! Ich kannte das noch nicht, obwohl meine Großeltern im Nürnberger Judenhof (den es nicht mehr gibt) gelebt haben. Die Frühschoppenteilnehmer sind hier zu sehen: www.medienwerkstat...hinsel-in-franken/