Jubiläum von Berlinale-Sektion: Moorleiche in der Provinz
Die Berlinale-Sektion „Perspektive deutsches Kino“ wird 20 Jahre alt. Hier wird die Vergangenheit sowohl aufgearbeitet als auch re-inszeniert.
Dem hiesigen Filmnachwuchs eine Plattform zu geben, das war die Idee, als vor genau 20 Jahren die „Perspektive deutsches Kino“ als eigene Berlinale-Sektion ins Leben gerufen wurde. Anfangs von Alfred Holighaus geleitet, seit zwölf Jahren und in diesem Jahr zum letzten Mal von Linda Söffker.
Viel hat sich seither im deutschen Film getan, viel wurde über ihn geschrieben, Ideen hin und her gewälzt, wie es anders, wie es besser werden kann. Denn dass es besser werden sollte, darüber sind sich alle Beteiligten – von Förderanstalten über Filmemacher:Innen bis zu Filmkritiker:Innen – einig; die Frage ist nur: Wie? Unzählige Werke werden jedes Jahr in Deutschland produziert, die Fördermittel fließen reichlich. Ein relevantes Publikum finden jedoch die wenigsten dieser Filme, was manchmal nicht zu begreifen, oft aber auch verständlich ist.
Und so ist auch die diesjährige „Perspektive deutsches Kino“ ein interessanter, guter Überblick über den Filmnachwuchs und zeigt in sieben Spiel- und Dokumentarfilmen die Qualitäten und Schwächen der Branche und in gewisser Weise auch eines Landes und seines Selbstverständnisses. Es beginnt mit dem diesjährigen Motto „Echo der Vergangenheit“ und reicht zum nicht nur in diesem Jahrgang beliebten Schauplatz: dem Wald.
Als mystisch aufgeladen gilt der deutsche Wald seinen Bürgern und Künstlern, viele Märchen der Brüder Grimm spielen dort, Dichter besangen ihn, doch nicht nur das Erhabene findet sich in Wäldern, sondern auch das Düstere, die Spuren, die Echos der Geschichte.
Ein Rotkäppchen namens Anja Grimm
So in Saralisa Volms Spielfilmdebüt „Schweigend steht der Wald“, basierend auf dem Roman von Wolfram Fleischhauer, dessen Plakatmotiv schon alles verrät: Kahle Bäume sind darauf abgebildet, im dichten Schneetreiben, das sich am oberen Bildrand zu den Streifen der Häftlingsbekleidung eines KZ-Insassen verändert. Und im Wald: Eine Frau – die auch noch Anja Grimm heißt! – mit rotem Mantel. Rotkäppchen auf den Spuren des ganz großen, besonders bösen Wolfs, man könnte sagen: alter und neuer Nazis.
Hier gibt es weitere Informationen zu allen Filmen der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“.
[Link auf https://www.berlinale.de/de/news-themen/news/detail_119368.html]
Auch in „Echo“ finden sich im Wald tödliche Spuren der Vergangenheit und im Film selbst Spuren des beliebtesten deutschen Genres: des Krimis. Es geht um die Polizeikommissarin Saskia Harder (Valery Tscheplanowa), die einst im Krieg in Afghanistan ein Attentat nur knapp überlebte. Nun ruft man sie in die Provinz, nach Friesland, wo eine Moorleiche gefunden wurde.
Skurrile Landbevölkerung
Die örtliche Polizei wirkt ein wenig überfordert, das Dorf ist skurril, die Kommissarin traumatisiert. Was sich wie die Kurzbeschreibung jeder zweiten „Tatort“- und „Polizeiruf“-Folge anhört, soll genau das sein: ein komplexes Spiel mit Motiven aus deutscher Kultur und Geschichte.
Zunehmend geraten die Ermittlungen in den Hintergrund, ein Bombenfund zieht die Aufmerksamkeit der Dorfbewohner auf sich und spannt Linien vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart: Ruinen im Umfeld des Dorfes wurden einst von Zwangsarbeitern gebaut, der Blindgänger verweist auf die Folgen des Wehrmacht-Angriffskrieges, die durch Gewalt verursachten Traumata werden in der Gegenwart in Afghanistan fortgesetzt, auch wenn der Einsatz offiziell kein Krieg ist.
Ein loses Geflecht aus Bezügen und Figuren lässt die Autorin und Regisseurin Mareike Wegener in ihrem Spielfilmdebüt entstehen. Dieses setzt sich ebenso ernsthaft mit den Traumata der deutschen Geschichte auseinander, wie es leicht und oft fast parodistisch das deutsche Selbstverständnis und der Deutschen liebstes Genre untergräbt. Einer der bemerkenswertesten Filme in der diesjährigen Perspektive, der nicht zuletzt durch seine prägnanten, streng komponierten Bilder überzeugt.
Talentierte Kamerafrau
Und die Kamerafrau Sabine Panossian ist es auch, der als Perspektive-Talent besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Bei jedem Film wird ein Gewerk besonders herausgestellt, mal ein Produzent, mal eine Cutterin – oder die Ausstatterin Elisabeth Kozerski. Sie arbeitete am Eröffnungsfilm „Wir könnten genauso gut tot sein“ mit, dem Regiedebüt der in St. Petersburg geborenen Natalia Sinelnikova.
Ein abgelegenes Hochhaus und die umliegenden Gartenanlagen sind ausschließlicher Schauplatz einer subtilen Dystopie, in dem ausgewählte Menschen in einem Haus leben. Es dient als Allegorie für eine sichere Trutzburg, einen sicheren Hafen, sei es Deutschland oder Europa.
Die Aufnahme ist restriktiv, die Angst vor dem Außen groß, dementsprechend schnell können Misstrauen und Verdächtigungen wachsen, die in diesem Fall die Sicherheitsbeauftragte Anna (Ioana Iajob) und ihre Tochter treffen. In der Berliner Trabantenstadt Marzahn wurde gedreht, doch dank der irritierenden Musik, dem unterschwelligen satirischen Tonfall und, ja, der genauen Ausstattung entsteht das Bild einer ganz eigenen Welt, die jedoch mehr mit unserer zu tun hat, als es den Anschein hat.
Größeres Publikum erwünscht
Auch diesem Spiel mit Genremotiven würde man ein Publikum auch jenseits des Festivals wünschen, doch das wird immer schwieriger. Im Wust an „Content“, der nicht mehr nur donnerstags in den Kinos startet, sondern täglich bei den diversen Streamern, fällt es gerade kleineren, ambitionierten, oft auch sperrigen deutschen Filmen schwer, sich durchzusetzen.
Umso wichtiger, dass die Berlinale diesen Filmen in der „Perspektive deutsches Kino“ Öffentlichkeit gibt, denn oft sind gerade hier große, schöne, inspirierende Entdeckungen zu machen.
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