Film „Wir könnten genauso gut tot sein“: Der böse Blick im Badezimmer

Natalia Sinelnikovas Debütfilm „Wir könnten genauso gut tot sein“ verdichtet soziale Missstände. Er erzählt von einer isolierten Hochhausgemeinschaft.

Eine Gruppe von Menschen mit Golfschlägern geht mit wachsamen Blicken über einen Rasen.

Privilegierte Bürgerwehr: Hausmeister Gertie Possner (Jörg Schüttauf) mit Gleichquergesinnten Foto: eksystent

Ein Mann und eine Frau hetzen mit ihrem Sohn durch den Wald. Die beiden Erwachsenen halten das Kind in der Mitte an der Hand, in der anderen haben sie je eine Axt. Am Waldrand entledigen sie sich der Äxte und laufen auf ein Hochhaus zu, das sich in der Ferne aus dem Grün erhebt. Als sie den Zaun des Geländes erreichen, öffnet sich ein Tor.

Im Foyer des Hauses sucht die Sicherheitsbeauftragte des Hauses die Erwachsenen mit einem Metalldetektor ab. Als sie fertig ist, zeigt sie der Familie eine der Wohnungen. Die Familie kann ihre Verzweiflung kaum verbergen. Das „Phoebushaus“ ist in Natalia Sinelnikovas Debütfilm „Wir könnten genauso gut tot sein“ eine Bastion gegen die Welt außerhalb des Zauns. Den Gefahren der Welt setzt diese Gated Community bekennende Spießigkeit entgegen.

Sinelnikova bedient sich der Figur der Sicherheitsbeauftragten Anna (Ioana Iacob), um die Zu­schaue­­r_in­nen in die Welt des „Phoebushauses“ einzuführen. Dazu gehört ein penibler Auswahlprozess von Bewerber_innen auf die raren Plätze im Haus, deren Bewerbungen in einem kühlen Konferenzraum beraten und abgestimmt werden.

Wer eine der Wohnungen ergattert hat, muss sich einem strengen Regiment unterwerfen. Sichtbare Verstöße gegen den Verhaltenskodex werden scharf geahndet. Annas Tochter Iris hat sich in die zusätzliche Sicherheit des Badezimmers der Wohnung, die sie sich mit ihrer Mutter teilt, zurückgezogen.

„Wir könnten genauso gut tot sein“. Regie: Natalia Sinelnikova. Mit Ioana Iacob, Pola Geiger u. a. Deutschland/Rumänien 2022, 93 Min.

Betrinken nur in der eigenen Wohnung

Für einen Auftritt mit ihrer Tanztruppe auf einem bunten Abend im Erdgeschoss des Hauses verlässt Iris diesen Schutzraum ausnahmsweise. Doch der Auftritt wird unterbrochen vom betrunkenen Hausmeister (Jörg Schüttauf), der seinen Hund vermisst und die Bewohner_innen lautstark mit einem Foto des vermissten Tieres konfrontiert.

Anna weist ihn pflichtschuldig darauf hin, dass man sich nur in seiner eigenen Wohnung betrinken darf. Die Leiterin des Hauses verweist ihn für die Nacht nach draußen vor die Tür. „Du weißt doch, wie wir in diesem Haus Verleumder und Unruhestifter handhaben.“ Das Irish Dancing geht nach dieser Unterbrechung weiter, klingt aber mit einem mal marschierend.

Willi, der verschwundene Hund von Hausmeister Gertie Possner, wird zum Auftakt einer Reihe von Ereignissen, die die Sicherheit erschüttern. Trotz aller Zäune und Sicherheitsvorkehrungen leben die Be­woh­ne­r_in­nen in Angst. Possner stilisiert einen der Außenseiter im Haus, einen jungen Mann, der im Fahrstuhl seine Gedichte verkauft, zur Bedrohung. Wenig später präsentiert er einen toten Marder als Leichnam seines Hundes.

Anna lässt die Lüge als Einzige im Haus nicht unkommentiert durchgehen. Ein Eklat, der sie den Status ihrer Position im Haus kostet. Dieses Mal verbringt sie die Nacht im Freien. Eine Bürgerwehr unter ­Führung Possners nimmt die Sicherheit in die eigene Hand. Die Be­woh­ne­r_innen meiden nun selbst den Garten innerhalb des Zauns und verlassen das Gebäude nicht mehr.

Der Rückzug von Annas Tochter Iris ins Badezimmer wird zunehmend skeptisch beäugt. Im Haus macht das Gerücht die Runde, Anna schließe ihre Tochter in der Wohnung ein. Iris wiederum ist überzeugt, den bösen Blick zu haben. Mutter und Tochter kommunizieren durch eine Öffnung in der Badezimmertür, wechseln zwischen Deutsch und Polnisch. Aus der Sicht der Mutter macht das Verhalten der Tochter ihre Position im Haus noch prekärer. Immer verzweifelter versucht sie, Iris zu überzeugen, das Badezimmer zu verlassen.

Das Gefühl sicher zu sein

Die Anfangsszene des Films ist unterlegt mit dem Chorlied „Intra muros tuti sumus“ (Innerhalb der Mauern sind wir geschützt), gesetzt zur Melodie des Neujahrslieds „Schtsche­dryk“ des ukrainischen Komponisten Mykola Leontowytsch. „Das Gefühl sicher zu sein ist genauso wichtig wie die Sicherheit selbst“, belehrt die Leiterin des Hauses, als Anna ein letztes Mal gegen das immer absurdere Vorgehen der Bürgerwehr protestiert.

„Wir könnten genauso gut tot sein“ entwirft im Mikrokosmos des „Phoebushauses“ eine dystopische Gesellschaft, die im Namen der Sicherheit und getrieben von Angst immer repressivere Züge annimmt. Die Kraft dieser Dystopie hängt damit zusammen, dass Sinelnikova die Gesellschaft des Hauses nicht als „das Andere“ zeigt. Die Bilder, die sie gemeinsam mit Kameramann Jan Mayntz entwickelt hat, sind nüchtern und alltäglich und tragen darin zur bedrückenden Atmosphäre bei. Mayntz’ Kameraarbeit für den Film wurde auf dem Filmfestival in Tribeca ausgezeichnet.

Jörg Schüttaufs Hausmeister trifft ziemlich gut den Typus jener außer Kontrolle geratenen Männer fortgeschrittenen Alters, die ihre „Bedenken“ auf „Querdenker“- und Montagsdemonstrationen in die Welt bläken. Als Anna aus der Gunst der Be­woh­ner_innen fällt, erinnert die Leiterin des Hauses sie daran, dass sie sich damals für sie eingesetzt habe. Nicht alle seien von so viel Diversität überzeugt gewesen.

Nachdem Anna aus der Gunst gefallen ist, fällt der Schleier, der den Rassismus bislang verhüllt hat. Doch „Wir könnten genauso gut tot sein“ geht über diese konkreten Anknüpfungspunkte hinaus und macht lauernde Entwicklungslinien des Autoritären in der Gesellschaft sichtbar. Bei alledem entgeht Sinelnikovas Debüt­film den Fallstricken plumper Überdeutlichkeit, die im deutschen Film grassiert. Stattdessen setzt der Film auf einen sanften Humor, der sich unter anderem in den Interaktionen Annas mit dem Hausmeister zeigt.

Vorliebe für Dystopien

„Wir könnten genauso gut tot sein“ verbindet zwei Trends. Zum einen reiht der Film sich ein in ein wiederbelebtes deutsches Genrekino, das sich mit Namen wie Till Kleinert, Linus de Paolis und Christian Alvart verbindet. Zum anderen passt der Film zur gegenwärtigen Vorliebe für mediale Dystopien.

In Europa sind dies seit einiger Zeit vor allem Filme und Serien aus Skandinavien. Lars Lundströms Serie „Real Humans“ imaginierte eine Welt mit humanoiden Robotern als Dienstleistern. Die Serie wurde 2014 vom schwedischen Fernsehen nach der zweiten Staffel abgesetzt, aber als englischsprachige Serie „­Humans“ reanimiert. Etwa zeitgleich mit dieser Adaption im Auftrag von Channel 4 kam Ben Wheatleys Hochhausdystopie „High-Rise“ 2016 in die Kinos. Von 2015 bis 2019 präsentierte das norwegische Fernsehen die Serie „Occu­pied“, in der Norwegen nach einer Ölkrise von Russland besetzt wird.

Die dystopische Gesellschaft in „Wir könnten genauso gut tot sein“ ist deutlich näher an der Realität als in den meisten dieser Beispiele. Mit ihnen zusammen steht der Film für das Ende der Verheißung einer besseren Zukunft und für eine Gegenwart, die in verschiedenster Weise zu kippen droht.

Als „Wir könnten genauso gut tot sein“ Anfang des Jahres die Perspektive Deutsches Kino auf der Berlinale eröffnete, fand der Film große Aufmerksamkeit. Und in der Tat: Selten hat ein deutscher Spielfilm in den letzten Jahren Humor, Gesellschaftsanalyse und Stilsicherheit so ausbalanciert wie dieser. „Wir könnten genauso gut tot sein“ vertraut auf die Stärke seiner Bilder, die Dialoge sind frei von jeder Geschwätzigkeit, die Besetzung überrascht bis in die Nebenrollen positiv. Natalia Sinelnikovas Abschlussfilm an der Film­uni­versität Babelsberg ist ein Ausnahmefilm.

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