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Jazz beim mœrs-FestivalDie Alten erschrecken

In Moers fand an Pfingsten das Jazzfestival statt. Sein Konzept ist runderneuert, seine Jazz-Definition erweitert. Der Experimentierwillen ist groß.

black midi aus London, hier live in Moers Foto: André Symann

Gewisse Eltern, meine etwa, würden sich nach wenigen Sekunden mit Grausen abwenden, vielleicht vorher noch leise glucksen ob des Krachs, der ihnen gerade im Konzert serviert wird. Als am Freitag pünktlich um 16.15 Uhr der Japaner Tatsuya Yoshida als ­„Ruins Alone“ die Bühne beim „mœrs-Festival“ betritt, sich an sein Schlagzeug setzt, um im nächsten Moment drauflos zu trommeln, während aus seinem Laptop midi-basierte Coverversionen von Beatles bis Bach, von Debussy bis Super-Mario (alles in Hi-Speed) preschen, heißt es den Toleranz-Schalter umzulegen.

Wie bei den meisten KünstlerInnen der 48. Edition des Festivals für improvisierte Musik liegt das Glück oft zwischen einem „Sich-Zwingen“ und der „Vorfreude“. Doch in Moers, dieser Kleinstadt am Niederrhein, die man kennt, weil dort ein Festival mit internationalem Ruf stattfindet, ist man Atonales gewöhnt und hat gelernt, es zu genießen, während sich andere noch darüber wundern.

Der Stolz auf das Festival ist groß; vielleicht fühlen sich die Moerser deshalb mit den Bewohnern des schleswig-holsteinischen Wacken wegen des dort stattfindenden Metalfestivals seelenverwandt. Während ­Yoshida, der als Spezialgast beim ersten von insgesamt neun Auftritten (in unterschiedlichen Formationen) gerade gekonnt tollpatschig die „Ode an die Freude“ intoniert, stehen Eltern mit ihren Kindern zwischen Haremhosen-Hippies, denen man abnehmen würde, sich auf dem Weg zum nächsten Wald-und-Wiesen-Festival verlaufen zu haben.

Umgestaltung der Bühne

„mœrs“ (so die Eigenschreibweise) ist nun mal Kult. Und spätestens seit 2017 und der Übergabe des Staffelstabs der Programmleitung vom Kölner Rainer Michalke zu Tim Isfort versucht man auch wieder etwas mehr als Kult zu sein. Hebel gibt es dafür viele, einige Ungewohnte werden vom Kurator und dem Team betätigt.

Dazu gehört sicherlich die Umgestaltung der Festivalhalle, deren Bühne nicht dort steht, wo man eine Bühne erwartet, sondern um etwa 45 Grad gedreht und auf die Längsseite der Halle geschoben, wo sie nun ihre Heimat hat. So sitzt das Publikum auf zwei Tribünen hinter beziehungsweise vor der Bühne, die mit einem Holzpanzer inklusive schwenkbarem Kanonenrohr als Bühnenbild daherkommt.

Zum Gesamteindruck gehören die leuchtenden Kinderschaufensterpuppen, die hier allenthalben von der Decke baumeln oder schlicht im Publikum sitzen. Festivalleiter Isfort möchte nicht preisgeben, warum sein Hauptspielort kleinkünstlerisch betreut wird, wirft aber mit redlich gemeinten Begriffen wie „Perspektivwechsel“ und „Normalitätserwartung“ um sich. Der Perspektivwechsel kommt bei den BesucherInnen jedenfalls an; vorrangig auf der Ebene der Begeisterung.

In Moers ist man Atonales gewöhnt und genießt es, wo andere sich noch darüber wundern

Das mag auch daran liegen, dass nach dem Ende von Yoshida Konzert ein Sturzbach vom Himmel kommt und die teils nassgeregneten Zuschauer mit einer Weltpremiere entschädigt werden: Sun Ra Arkestras Marshall Allen, Free-Jazz-Drum-Titan Günter „Baby“ Sommer, Toshimaru Nakamura, unter der Bandleadership Rodrigo Brandãos, spielen erstmals zusammen und bilden den Auftakt für den neuen Programmzweig „Labor“, der (wohlkuratiert) KünstlerInnen zusammenbringen soll, die wahrscheinlich nie auf die Idee kommen würden, dass es passt. Doch hier passt es.

Zirkularatmung auf dem Turm

Und diese Aufeinandertreffen passen an den vier Festivaltagen sehr häufig; auch wenn die Musik stets sperrig bleibt, keine Anbiederung stattfindet, sondern „Improvisation“ sowie „Experiment“ nie aus den Augen verloren werden. Trompeter Peter Evans fügt sich dem Spektakel und spielt als Hauptakt in der großen Festhalle nicht auf der Bühne, sondern präsentiert sein umwerfendes Zirkularspiel vom Regieturm runter.

Eine weitere Neuerung – zumindest in diesem Umfang – sind die internationalen Partnerschaftsprogramme: Schwerpunktweise widmet man sich São Paulo, Frankreich, Belgrad und Tokio. Zur letztgenannten Partnerschaft gehört etwa Yoshidas Residency, aber auch Künstler wie das Yasei Collective, das funky und mathematisch-vertrackt kombiniert. Im Ergebnis klingt es den J-Pop-Pionieren Yellow Magic Orchestra nicht unähnlich.

São Paulo präsentiert sich etwa mit Tom Zé. Der 82-jährige Miterfinder des Tropicália-Sounds ist einer der Brasilianer, die ihre Kunst stets gesellschaftspolitisch eingebettet haben. Je mehr Musik in Moers man hört, desto eindeutiger vermittelt sich auch der Eindruck, dass dem Festival eine Agenda zugrunde liegt; Re-Politisierung eines Musikzweigs (improvisierter Jazz), der sich in den letzten Jahrzehnten allzu häufig als L’art pour l’art verstanden hat, wo die bloße Ausdrucksweise mehr bedeutete als das Ausgedrückte.

Man thematisiert dies offensiv: Das Festivalheft wird zum Manifest, nur sind die Texte leider in einer Marketingsprache verfasst. Die Warenhaftigkeit von Free Jazz, auch in seinen tiefsten Sparten und absurdesten Subgenrearmen, scheint in Zeiten von Festivals, die einzig Headliner an Headliner reihen, Überhand zu nehmen. Den Fehler möchte man in Moers nicht wiederholen; selbst wenn man solch hoch gehandelte Newcomer wie das Post-Hardcore-Math-Rock-Jazz-Ensemble black midi (sic!) aus London einlädt. Diese wiederum spielen tatsächlich diese tolle Musik, mit der man Eltern erschrecken kann.

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8 Kommentare

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  • ...musste? Die Mucke war immer noch seriös, die „Rundumerneuerung“ sehe ich aber eher kritisch. Die Haltung muss überdacht werden. Mehr impliziter Widerstand!

  • Eigentlich gehts ja darum, störrisch gegen-welchen-stream-auch-immer auf seine Individualität zu pochen und tamen! auf das eigene Existenzrecht zu beharren; die Selbstoptimierer zu verschrecken, die Wirtschaftskreativen abzustoßen und alle anderen vollzublasen, was das Zeug hält. Das hält das Jahr über warm. Da hat das Festival aber m.E. etwas nachgelassen. Die milde Satire auf die omnipräsente Profitgier nebst diesen etwas flauen Gedanken konterkarierender Verscheuerung überteuerter Snacks und Getränke war eher ein Anschlag auf den Tick humorlosen Willens zu Anarchie, der Moers innewohnte. Oder war es ein Hilfeschrei der Organisatoren, weil unbedingt mehr Kohle reinkommen

  • Erschreckt waren viele.

    Leider kaum vor einem guten Programm. Aber von einer Respektlosigkeit die sich seit Tim Isfort breitmacht. Alles wird verdampft in eine einzige Kirmes Atmosphäre. Lautsprecher an der Außenbühne die ständig Geräusche dudelnd über den Konzerten halt. Umkreisende Musikwagen die durch jegliche passage der spielenden Musiker preschen. Keinerlei Ort zum Nachhorchen des soeben gehörten in der mittlerweile hermetisch abgeriegelten Halle. Der Platz davor bleibt Parkplatz den lächerlichen Gartenzwergen wird mehr Raum eingeräumt als den Besuchern. Horden von Freiwilligen unbezahlten Gefolge in einem einzigen Politikum zwischen Panzer auf der Bühne und Schaukelnden Kindersoldaten. Ein Künstlerischer Leiter der nicht in der Lage ist einen ganzen Satz zustande zu bringen und noch am heißesten brennt wenn er ähnlich der Pressesprecherin im weißen Haus sich jeglicher zwischen rufe verbittet und auf den Kummer Kasten verweist.

    Ja die alten sind Erschreckt, die Jungen ebenso. Aber nicht von besonders herausragender Musik. Sondern von einem blutleeren Programm und grenzenloser Respektlosigkeit gegenüber Musikern und Besuchern. Am Zeltplatz ist übrigens jetzt eine Zimmerlautstärke ab 1 Uhr Gesetz damit sich auf gar keinen Fall noch neue Junge Menschen und angehende Musiker zusammenfinden können damit bloß nichts nachwächst das sich noch über #TimJong-Il beschweren könnte. 45 Jahre kreative fantastische aufrührende Musik an einem Ort an dem sich über eben diese Unterhalten und ausgetauscht werden konnte, wird aktuell hingerichtet um die wenigen zufrieden zustellen die das Festival eigentlich nie so richtig wollten und zur Eventkultur des profanen herbeigesehnt haben. Hauptsache die Marktstände haben sich verdoppelt. Das dies nur noch aus Ramsch besteht und zum Beispiel Händler mit guten Musikinstrumenten mitlerweile restlos verschwunden bedient ebenso den reinen Liberalismuss vor Ort. #R.I.P.Moersfestival #FreeTimJong-IL

    • @Daniel Bergau:

      anschließe mich •

      • @Lowandorder:

        Nachklapp - 😈

        Gerade btw&Session a lot of - backstage



        Tell‘s the same stories like around. 👹

    • @Daniel Bergau:

      Well said.

  • Hallo liebeR TAZ-AutorIn,



    eigentlich ein schöner Artikel, der Lust macht, wieder mal in Moers vorbei zu schauen..



    Aber was soll der Unfug mit den angeblich sich erschreckenden Eltern?



    Dies sagt ein alter Moersveteran, damals noch im Schlosshof und Albert spielte. Peter (Brötzmann) war da, Eric, Ornette und all die anderen. Campen durften wir noch im Schlosspark.



    Und wir sollten uns erschrecken? Nur, wenn es schlecht gewesen wäre!



    Wird dieses alte-Generationen-Bashing eigentlich von der Redaktion als abzuspulendes Gesinnungssoll vorgegeben?



    Wahrscheinlich wärt Ihr dort auch dafür, dass all die Freejazzer, die 1974 pp. dabei waren, sofern sie noch leben, endlich ihre Wahlberechtigung zurückgeben (Führerschein ohnehin).



    Es liegt dem Artikel ein m. E. Mißverständis zugrunde. Freejazz war und ist Freejazz, egal in welchem Jahr er gespielt wurde, die Qualität entscheidet sich nicht am Jahrgang! Und Elektroniceinsatz macht ihn nicht per se besser oder kreativer.



    So gehe jetzt und lege die alte Yamashitaplatte auf und denke an den seligen Joachim-Ernst. Auch ein alter weißer Mann, als er starb, wusste aber alles über unsere Musik

    • @Hesperus:

      Alter Schwede - eigentlich isses ja noch viel schlimmer doof.

      Weil - wenn soo cheaper deeper. 👹

      unterm—- & wenn ich sowas -



      “…Free-Jazz-Drum-Titan Günter „Baby“ Sommer,…“ lese - kenn ich noch ausse



      Bockhaut - zieht‘s mer glatt die 👞 👟 out.



      &



      Michalke - ach du liebe Zeit. 👹



      Da - schweigt des Sängers Höflichkeit •