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Aktueller Autokorso in Damaskus zur Feier des Assad-Sturzes Ende 2024. Interimspräsident al Sharaas Konterfei prangt auf einem PKW Foto: Ghaith Alsayed/ap

Jahrestag von Assads Sturz in SyrienGerechtigkeit. Jetzt?

Ein Jahr nach Assads Sturz: Wie entwickeln sich Justiz und Fairness in einem Syrien im Übergang? Besuch bei Frauen, die sich für Aufarbeitung einsetzen.

Julia Neumann

Aus Damaskus und Idlib

Julia Neumann

E s regnet und gewittert in Damaskus, doch die Menschen am Ummayaden-Platz strahlen, zünden Feuerwerk und schwenken die neue syrische Flagge. Ein paar Jungs spielen Dabke-Musik aus einem Ghettoblaster, auch Kinder halten die Nationalflagge aus Fenstern. Sie feiern die Befreiung vom Regime Baschar al-Assads vor einem Jahr.

„Jetzt am Jahrestag schwelge ich in Erinnerungen“, sagt die 44-Jährige Hausfrau Manar. „Ich bin glücklich. Gott sei Dank ist die Lage viel besser. Wir fühlen uns wohler, haben mehr Sicherheit.“ Sie hat die neue Fahne um die Schultern gehängt, ist mit ihrer erwachsenen Tochter auf den Platz gekommen. „Früher konnten wir nicht frei sprechen. Die Angst, war immer da: überwacht zu werden, sogar am Telefon. Dass sie uns ins Gefängnis bringen. Selbst, wenn wir nur ein falsches Wort sagten. Wir lebten in Angst und Schrecken – unsere Kinder, unsere Familien, wir selbst.“ Nun habe sie vor nichts mehr Angst.

Vor genau einem Jahr stürzte ein Bündnis aus 13 Milizen das Assad-Regime in Syrien. Ahmed al-Scharaa hatte die Oppositions-Truppen angeführt, dann seinen Kampfnamen abgelegt, sich zum Präsidenten ernannt und Ministerposten vergeben. Al-Scharaa folgte einst einer radikalen Auslegung des sunnitischen Islam. Heute gibt er sich gemäßigt, wirbt um internationale Gelder. Nicht alle trauen dem ehemaligen Dschihadisten in Anzug und Krawatte. Nicht-Sunnit:innen in Syrien sorgen sich, weil die Regierung sie nicht schützt, oder sogar direkt verfolgt.

Die progressive syrische Zivilgesellschaft fordert, stark einbezogen zu werden: in politische Entscheidungen, aber auch in die sogenannte Übergangsjustiz. Also dass Verbrechen aufgeklärt, Täter vor unabhängige Gerichte gestellt werden und eine Art kollektiver Erinnerungskultur aufgebaut wird. Außerdem fordert sie Entschädigungen für widerfahrenes Leid, zum Beispiel durch Geld. Al-Scharaa hatte versprochen, für Gerechtigkeit zu sorgen und die „Verbrecher vor Gericht zu bringen“. Die Zivilgesellschaft schaut ihm dabei auf die Finger: dass Minderheiten endlich geschützt werden und Frauen ihren Platz im politischen Geschehen bekommen.

Der Sturz Assads Ende 2024 – die Zeitleiste

27. November 2024 Die in der Region Idlib bereits regierende Miliz Hayat Tahrir asch-Scham beginn mit verbündeten Gruppen eine Offensive auf die vom Assad-Regime kontrollierten Gebiete im Nordwesten Syriens.

30. November 2024 Die HTS und weitere Milizen erobern die Großstadt Aleppo. Die Regierungstruppen ziehen sich zurück.

30. November bis 5. Dezember 2024 Die Offensive wird auf Zentralsyrien ausgeweitet. Die Milizen erobern die strategisch wichtige Stadt Hama.

5. bis 7. Dezember 2024 – Die von der HTS angeführten Truppen rücken von Hama Richtung Homs vor. Auch im südlichen Daraa, wo die Revolution 2011 begann, setzen sich Rebellen durch. Es wird klar, dass der Umsturz nicht mehr aufzuhalten ist.

7. bis 8. Dezember 2024 Die HTS und ihre Verbündeten marschieren in die Haupstadt Damaskus ein. Präsident Baschar al-Assad flieht nach Russland. Die Assad-Diktatur ist nach 53 Jahren Geschichte. (lks)

Im Innenhof eines Cafes in der Damaszener Altstadt – schwarz-weiß gestreifte Steinwände aus der mamlukischen Zeit, ein kleiner Springbrunnen steht in der Mitte. Frauen sitzen auf Stühlen im Halbkreis, eine ergreift das Mikrofon: „Wir müssen zugeben, dass wir nicht für uns selbst eingestanden sind. Zwölf Jahre lang konnte ich nicht darüber reden, dass mein Mann und mein Sohn inhaftiert waren“, sagt sie. Die Frau ist Palästinenserin, möchte anonym bleiben. Sie ist eine der vielen Angehörigen, die ihre Männer und Söhne suchen. Nicht wenige reden bei solchen Angehörigen-Treffen zum ersten Mal darüber.

Viele Traumata kamen und kommen heute noch zum Vorschein. Nur wenige Gefolterte wurden lebend gefunden: Mehr als 160.000 gelten noch als vermisst

Während des 14-jährigen Krieges in Syrien wurden mehr als 181.000 Menschen gewaltsam verschleppt oder willkürlich inhaftiert, so das Syrische Netzwerk für Menschenrechte. 90 Prozent von ihnen hatte das Assad-Regime gefangen, die Menschen wurden oft bis zum Tode gefoltert. Als das Regime stürzte, öffneten die Milizen die Foltergefängnisse. Die Menschen realisierten das ganze Ausmaß der Schreckensherrschaft. Viele Traumata kamen und kommen heute noch zum Vorschein. Nur wenige Gefolterte wurden lebend gefunden: Mehr als 160.000 gelten noch als vermisst.

„Ich bin mir sicher, dass wir, wenn wir miteinander reden, den Schmerz der Anderen hören“, sagt die Angehörige. „Nach der Befreiung war ich sehr emotional. Ich schrie, bis meine Kinder sagten: Mama, sprich etwas ruhiger. Ich kann meine Gefühle einfach nicht kontrollieren.“

In einer Reihe vor den Frauen sitzt im Innenhof des Cafés die Nationale Kommission für vermisste Personen in Syrien. Beauftragt von der amtierenden Regierung sollen sie das Schicksal von gewaltsam verschwundenen Personen aufdecken, die Fälle dokumentieren, eine Datenbank erstellen und die Angehörigen rechtlich unterstützen. So zumindest heißt es in einer Erklärung des Präsidenten.

Die Kommission selbst kämpft mit wenigen Mitteln. Die Gefängnisse wurden in der knapp einwöchigen Milizen-Offensive extrem schnell geöffnet. Angehörige eilten an die Orte, um ihre Liebsten zu suchen. Menschen nahmen Dokumente an sich, die sie in Büros, Gefängnissen und weiteren Behörden fanden. Wichtige Beweismittel sind jetzt zerstreut in Syrien, nicht gesammelt in einer Datenbank. Das Land hat nur ein einziges Labor für DNA-Tests.

Mitglied der staatlichen Kommission ist auch der Psychiater Jalal Nawfal. Er selbst war unter Assad mehrere Male inhaftiert. Nun leistet er psychologische Unterstützung bei den Angehörigentreffen. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, antwortet er der betroffenen Palästinenserin. „Ich habe von vielen Frauen gehört, dass sie reden wollen, aber nicht können. Sie sagen, sie seien zum Schweigen verdammt. Sie haben noch immer Angst um ihre Kinder, Angst um die Menschen um sie herum. Aber alle sagen: Wir müssen reden.“

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Für viele Angehörige scheint es wohl immer noch so, als sei kaum Zeit vergangen: „Manchmal fühle ich mich, als hätte ich nur Schmerzen, kann nur noch an meinen Sohn denken. Seit zwölf Jahren, wenn ich Brot auf den Tisch stelle, erinnere ich mich daran, dass Muhammad einen Monat lang ohne Brot im Lager Yarmouk gefangen war“, sagt die Palästinenserin. Das Flüchtlingslager am Rande vom Damaskus wurde durch Assads Truppen monatelang blockiert, von Lebensmitteln abgeschnitten. „Das ist ein Schmerz, den wir nicht loswerden können.“

Die staatliche Kommission aber schraubt die Erwartungen an ihre eigene Arbeit merklich herunter in der Öffentlichkeit. Es wird Jahre dauern, die Fälle der Vermissten aufzuklären. Die Angehörigen pochen auf ihr Recht, zu erfahren, was mit ihren Liebsten geschehen ist. Neben der Gewissheit brauchen sie auch dringend psychotherapeutische Unterstützung. Zumindest zuhören, das können auch andere Betroffene. „Dies ist der Ort, an dem wir uns austauschen, zuhören, voneinander lernen“, sagt Psychiater Nawfal zu den Frauen. Er erklärt: „Genesungsprozesse sind normalerweise eher gemeinschaftlich als individuell.“

Kenan Ashoor aus Salamieh arbeitet in einem Koordinierungsteam für Angehörige der Vermissten Foto: Julia Neumann

Die 44-Jährige Kenan Ashour sitzt auch am Tisch des Angehörigen-Treffens. Die Aktivistin ist aus Salamieh, im Norden Syriens, angereist. Sie arbeitet in einem Koordinierungsteam für Angehörige der Vermissten. „Leider wurde in unserer Stadt kein einziger politischer oder militärischer Häftling gefunden“, erzählt sie. „Wir suchen noch immer 150 Vermisste.“ Sie selbst vermisst ihren Bruder Abdullah. „Er ist ein Held. Früher durfte ich das nicht sagen. Er wurde als Terrorist gesehen.“

Abdullah Ashour war Unteroffizier in der Armee des Assad-Regimes, habe sich 2011 aber geweigert, auf seine Landsleute zu schießen. Daraufhin hätten ihn die Sicherheitskräfte verhaftet. „Wir forschten nach und erfuhren, dass er im Saidnaya Gefängnis war. Lange haben wir auf den Tag der Befreiung der Gefängnisse gewartet. Leider tauchte er nicht auf.“ Ashour glaubt nicht daran, dass ihr Bruder tot ist. Sie meint, ihn in einem Video identifiziert zu haben. Sie hofft, dass er irgendwo ist, ohne sich zu erinnern – und deshalb nicht zu seiner Familie findet.

Huda Khaity, Gründerin und Leiterin des Frauenzentrums in Idlib Foto: Julia Neumann

Trotz der für sie schlechten Bilanz ist Kenan Ashour aber weiter optimistisch, was die Regierung angeht. „Was sie sagen, ist sehr beruhigend. Ich stehe hinter ihnen. Und es ist ja nicht von einer einzelnen Person abhängig. Alle Sy­re­r:in­nen müssen mitarbeiten, bis die Wahrheit ans Licht kommt.“ Jeder, auch wenn er in dem alten System auch nur einen Bericht über die Folteropfer geschrieben habe, müsse zur Rechenschaft gezogen werden, so die Aktivistin.

„Bisher haben wir keine Anzeichen dafür gesehen, dass die Täter bestraft oder Fortschritte in diesem Bereich erzielt werden“, sagt die 38-Jährige Feministin Huda Khaity. „Leider ist die Lage sehr beunruhigend, immer wieder werden neue Massengräber entdeckt.“ Khaity sitzt in ihrem Büro in Idlib, im Nordosten Syriens. Sie leitet das „Women Support and Empowerment Center“, das Frauen und ihre Familien in Idlib und in den Geflüchtetenlagern dort unterstützt. Die Frauen organisieren Bildungsangebote, besorgen Hilfsgüter, leisten psychosoziale Unterstützung. Die Menschen in Oppositionsgebieten hätten am meisten unter Assad gelitten, so Khaity.

In einem der Räume des Zentrums glätten junge Frauen Haare, färben Strähnen. Khadija Dallaleh ist Friseurin und Visagistin. Sie bringt den Frauen bei, sich gegenseitig zu frisieren und zu schminken. So können sie später Arbeit finden oder einen eigenen Salon öffnen. „Wir verdienen die schönen Momente wirklich!“, sagt Dallaleh beim Haaresprayen. „Wir haben unter allen Schwierigkeiten gearbeitet: unter Bombardierung, unter Zerstörung. Selbst nach dem Erdbeben haben wir nicht aufgehört.“ Deshalb seien die Frauen müde. „Es ist noch ein langer Weg. Wir hoffen, dass unsere Lebenssituation sich bald verändert.“

Die Allermeisten haben weniger als zwei Euro am Tag

Von den 25 Millionen Menschen in Syrien leben rund 90 Prozent unter der von der UNO definierten Armutsgrenze von zwei Euro pro Tag. Noch immer sind Menschen binnenvertrieben, Häuser, Krankenhäuser und Infrastraktur massiv zerstört – besonders, aber nicht nur, in der Region Idlib. Wohnungen, Wasserversorgung, Schulen und Krankenhäuser sind beschädigt oder überlastet, meldet das UN-Geflüchtetenwerk UNHCR. Viele die zurückkehren, finden unbewohnbare Häuser oder Viertel vor, in denen die Grundversorgung kaum funktioniert.

Die neue Regierung hat sich das Vertrauen vieler westlicher Po­li­ti­ke­r:in­nen erarbeitet, Sanktionen wurden teilweise aufgehoben. Durch neue diplomatische Beziehungen hat die Regierung Gelder aus Saudi-Arabien, Türkei, Frankreich und auch Deutschland erhalten. Stromleitungen, Häfen, Straßen und neue Häuser: Zwar soll sich die Infrastruktur durch die wirtschaftliche Öffnung verbessern, doch die Bauprojekte kommen nicht zwangsläufig sofort der Bevölkerung zu Gute, sondern zielen darauf ab, die Wirtschaft erstmal per se anzukurbeln.

„Die wirtschaftliche Entwicklung verläuft langsam, es gibt noch keine konkreten Wiederaufbaupläne“, sagt die Leiterin des Frauenzentrums, Huda Khaity. „Wir hoffen, dass die Regierung den Wiederaufbauprozess beschleunigt.“ Sie selbst kann nicht zurück in ihr zerstörtes Haus. Khaity musste 2018 aus Ghouta vor den Giftgasangriffen des Assad-Regimes fliehen. Sie lebt seitdem in Idlib-Stadt.

Langsam öffnet sich diese Gesellschaft

Trotzdem sieht sie Syrien auf einem guten Weg. Die Stimme der Gemeinschaft wird tatsächlich von den Behörden gehört.“ Zur Situation der Frauen sagt sie, dass dies eher von der Gesellschaft abhinge, als von der politischen Führung. „Es gab und gibt in Idlib einige Moralvorstellungen – das ist die Gesellschaft, die durch Bräuche, Werte und Traditionen geprägt ist.“ Doch auch diese Gesellschaft öffne sich langsam. Sie lebe beispielsweise allein in Idlib und das sei kein Problem. „Die lokale Gemeinschaft ist immer sehr hilfsbereit und unterstützend.“ Es gibt in Syrien kein Gesetz zur Bekleidung von Frauen, die Regierung hatte diesen Sommer Vorschriften zur bedeckten Bademode als Empfehlung erlassen – für Männer und Frauen.

Interimspräsident Al-Scharaa hat die Beteiligung von Minderheiten und Frauen an politischen Entscheidungen versprochen. Doch Schlüsselministerien wie Verteidigung, Auswärtiges, Sicherheit und Justiz gingen an Mitglieder seiner ehemaligen HTS-Miliz. Menschen aus der Zivilgesellschaft haben Positionen mit weniger Macht bekommen. Immerhin gehört dem Kabinett eines der prominentesten Gesichter der syrischen Zivilgesellschaft an: Raed al-Saleh, zuvor Chef der Rettungsorganisation Weißhelme, ist Minister für Katastrophenmanagement. Hind Kabawat, die Ministerin für Soziales und Arbeit, ist die einzige Christin und einzige Frau im Kabinett. Sie sagt selbst, sie sei ein „Kind der Revolution.“

Die Bilanz der Leiterin des Frauenzentrums in Idlib, Huda Khaity, fällt entsprechend nüchtern aus: „Einige Frauen haben zwar Positionen und Führungsrollen übernommen, aber die Beteiligung ist sehr begrenzt, insbesondere im Bereich der Übergangsjustiz. Wir warten auch noch auf das Parlament – und darauf, wie Frauen darin vertreten sein werden.“

Anfang Oktober wurden die Abgeordneten fürs Parlament gewählt. An die Urne durften nicht alle Syrer:innen. Wahlausschüsse, ernannt von einem nationalen Komitee, hatten zwei Drittel der Abgeordneten gewählt. Laut nationaler Wahlkommission bewarben sich 1.578 Kan­di­da­t:in­nen für das Parlament. Nur 14 Prozent davon seien Frauen gewesen – es mangelte an Freiwilligen. Obwohl die Übergangsregierung eine Frauenquote von 20 Prozent angekündigt hatte, gingen nur 3 Prozent der Sitze an Frauen. Ein weiteres Drittel wird Übergangspräsident Ahmad al-Scharaa selbst auswählen. Bisher ist das noch nicht geschehen. Die Volksversammlung hat noch nicht getagt.

Generell ist in Syrien die Rolle der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit eingeschränkt. Zwar betont die Regierung immer wieder die nationale Einheit. Doch die Regierung bestimmt und wählt aus, welche Positionen besetzt werden – in Gewerkschaften, Behörden und sogar bei einer „Nationalen Dialogkonferenz“ im Februar, mit rund 600 Menschen aus allen Teilen Syriens und im Präsidentenpalast in Damaskus.

Al-Scharaa hat zwar versprochen, seine Regierung sei nur fünf Jahre übergangsweise im Amt. Es ist aber unklar, wie es danach weitergehen soll. Politische Parteien dürfen weiterhin nicht formell agieren. Das noch unvollständige Parlament muss auch noch Gesetze über das Parteienwesen in Syrien verabschieden.

„Ein Jahr ist viel zu kurz, um die Gesamtsituation zu beurteilen“, sagt Huda Khaity. „Vierzehn Jahre Zerstörung, Bombardierungen, Vertreibung, Morde. Übergangsjustiz braucht viel Zeit, sogar Jahre, und erfordert enorme finanzielle Mittel.“ Die Menschen würden, falls nötig, wieder protestieren. „Wir sind diejenigen, die eine Revolution angezettelt haben.“

Die neuen Machthaber begründen ihre Legitimität auch damit, dass sie Proteste nicht so gewaltvoll niederschlagen würden wie Baschar al-Assad. In Syrien feiern aber nicht nur Menschen den Sturz des alten Regimes – es gehen auch Menschen gegen die neue Regierung auf die Straße.

Bis jetzt leben wir von der Hoffnung, sagt eine Angehörige. „Wir werden niemals akzeptieren, dass diese Akten geschlossen werden“

Das beweisen Proteste wie in Suweida im Süden oder in der Küstenregion im Westen. Die Menschen fordern Schutz, Würde und teilweise auch autonome Regionen. Die Truppen unter der neuen Führung haben Massaker an Alawit:innen, Drus:­in­nen und Chris­t:in­nen begangen. Im März wurden fast 1.500 Ala­wi­t:in­nen von regierungsnahen Kräften brutal ermordet und Frauen entführt. Bei Massakern in Suweida Mitte Juli wurden mindestens 1.600 Drusen getötet.

„Die Spaltung anhand Religionszugehörigkeiten kam erst nach dem Fall des Regimes auf“, sagte die Kinderärtzin Sanaa al-Saadi bei einem Treffen in ihrer Praxis in Suweida bereits im Juli, kurz vor der Gewalt. „Die derzeitigen Machthaber haben sich als dschihadistisch-islamische Autorität erwiesen, in der andere kein Handlungsrecht haben.“ Die Ärztin fordert, „dass Täter ihre gerechte Strafe bekommen, zur Abschreckung und für Gerechtigkeit“.

Im drusischen Suweida, an der alawitischen Westküste, in christlichen Stadtvierteln, in Regionen wie dem kurdischen selbstverwalteten Nordosten – die Menschen leben im Krisenmodus, mussten dieses Jahr vor Gewalt und Massakern fliehen. Sie fürchten weitere Angriffe und können nicht zurück.

Ein Vorwärtskommen für Syrien gibt es nur, wenn die Vergangenheit aufgearbeitet wird. Doch das ist schwer, denn die Gegenwart wird weiter von Gewalt überschattet.

Die Angehörigen im Café-Treff in Damaskus wissen, dass die Vergangenheit in großem Umfang wohl kaum aufgearbeitet werden kann. Sie wünschen sich aber Transparenz von den Behörden – und dass man sie einbezieht. Einige Frauen äußern ihr Vertrauen in Gott, sie hätten Halt in ihrem Glauben gefunden. Sie alle sehen ihre Söhne und Männer als ehrenwerte Märtyrer, die für die Freiheit Syriens gestorben sind. Sie wünschen sich, dass der Staat ihr Leiden anerkennt und sie nicht vergisst. „Bis jetzt leben wir von der Hoffnung“, sagt eine Angehörige. „Wir werden niemals akzeptieren, dass diese Akten geschlossen werden.“

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2 Kommentare

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  • Wer nicht den gewaltigen Unterschied zwischen der Al-Scharaa-Regierung und der Assad-Diktatur sehen will und derzeit gegen die Zentralregierung hetzt, nimmt in Kauf, dass Syrien erneut im Chaos versinkt. Dieser Vorwurf muss leider auch an das autonome kurdische Rojava gerichtet werden, das/die in einer seltsamen Einheit mit alawitischen und drusischen Assad-Getreuen und Revanchisten und zusammen mit Israel, die Zentralregierung und den Aufbau des Landes destabilisieren. Gleichzeitig wollen diese Teile der syrischen Gesellschaft von der internationalen Aufbauhilfe profitieren. Gerade in der deutschen Rojava-Soli-Szene wird häufig ein undifferenziertes und negatives Bild von der Zentralregierung gezeichnet und Israel als regionaler destabilisierender Akteur erst gar nicht erwähnt. Hierbei wird zudem das Ziel der Unabhängigkeit ganzer Gebiete nicht offen ausgesprochen, da jedem bewusst ist, dass damit ein neuer Bürgerkrieg provoziert werden könnte. Die fortdauerende kurdische Besatzung von ca 1/3 des syrischen Staatsgebietes, mit z.T. rein arabischer Bevölkerung, wie z.B. in Raqqa, sollte die kurdische Rojava-Selbstverwaltung schleunigst beenden, will sie nicht Aufstände provozieren.

  • Ich glaube, dass die neue Regierung es besser machen könnte.



    Das größte Problem m.M. sind die saudischen und türkischen Unterstützer der Regierung.



    Während es für Erdogan definitiv darum geht, sich eine Carte Blanche für die Bekämpfung der YPG/PKK auf syrischen Boden zu holen, will Riad die Idee von echter Demokratie und Verfassung sicherlich nicht in Damaskus verwirklichen.



    Riad will wahrscheinlich auch keine Massaker oder Minikriege gegen religiöse Minderheiten sehen, aber wie wichtig wird es den Saudis am Ende sein? Sie bauen ihren politischen Einfluss in der Region gerade stark auf, um was zu erreichen?

    Momentan fehlt Syrien Humankapital und Infrastruktur. Ohne beide Elemente kommt der Wiederhaufbau nicht in Fahrt. Dazu kommt noch das Abarbeiten von Kriegsfolgen bei der Bevölkerung, wie einsatzfähig sind die Menschen gerade? Wie umgehen mit vertriebenen, traumatisierten Menschen. Was mit den Tätern tun und wer war überhaupt ein Täter, wer war ein Mitläufer?