Jahrestag des „Hamburger Kessels“: Die Mutter aller Kessel
Heute vor 30 Jahren hielt die Polizei 861 Demonstranten stundenlang auf dem Heiligengeistfeld fest. Der „Hamburger Kessel“ machte Schule.
Das Ereignis beschäftigte die Justiz auf mehreren Ebenen – und Straf-, Zivil- und Verwaltungsrichter verurteilten das staatliche Vorgehen einhellig. Politisch haben die Urteile zwar einiges bewirkt. An den Polizeistrategien hat sich grundsätzlich jedoch nichts geändert.
Auslöser waren die Ereignisse des Vortages, als Zehntausende gegen die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Brokdorf in der Wilstermarsch demonstrierten – oder demonstrieren wollten. Der so genannte Hamburger Konvoi hatte eine Route über Bad Bramstedt gewählt, um die Autobahn über Elmshorn und Itzehoe für die Zehntausenden TeilnehmerInnen aus ganz Deutschland frei zu halten. In dem Örtchen Kleve versuchte der Konvoi, eine scheinbar harmlose Polizeisperre zu durchbrechen.
Hubschrauber und Knüppel
Es war eine Falle. Im Nu waren Spezialkräfte des Bundesgrenzschutzes und mobile Einsatzkommandos aus ganz Deutschland – zum Teil mit Hubschraubern – vor Ort. Mit Knüppeln demolierten sie Autos und Busse, zerstachen Reifen, und trieben Insassen vor sich her Der Konvoi musste umkehren.
Als rechtswidrig stufte das Verwaltungsgericht den Hamburger Kessel ein. Auch eine sich bildende Demonstration stehe unter dem grundrechtlichen Schutz der Versammlungsfreiheit.
Ein Schmerzensgeld von 200 D-Mark für die unrechtmäßige Freiheitsberaubung sprach eine Zivilkammer des Landgerichts den 861 Betroffenen zu.
Zu 12.000 DM Geldstrafe verurteilt wurden vier Polizeiführer wegen Freiheitsberaubung, aber unter „Strafvorbehalt“ – zu zahlen erst im Wiederholungsfall.
Die entsetzten HeimkehrerInnen versammelten sich am Abend in der Werkstatt 3 und setzten für den nächsten Tag, einen Sonntag, eine spontane Demonstration an – natürlich belauscht vom Staatsschutz. Als sich am 8. Juni 1986 um kurz vor zwölf Uhr die ersten TeilnehmerInnen versammelten, kamen ohne Vorwarnung Polizisten von allen Seiten angerannt. Sie kesselten die DemonstrantInnen ein und trieben sie vor den Flakbunker an der Feldstraße.
Viele potenzielle TeilnehmerInnen hatten den Versammlungsort noch gar nicht erreicht. Die Folge: Es entwickelten sich im Karoviertel rund um den Bunker stundenlange Straßenschlachten. Die Lage war außer Kontrolle – der damalige Innensenator Rolf Lange (SPD) behauptete am Nachmittag, es sei darum gegangen, eine „Schneise der Gewalt zu verhindern“.
Notdurft im Kessel
Die Polizei war mit dem Abtransport der Festgenommenen und der Aufnahme der Personalien völlig überfordert. Polizistinnen für die Leibesvisitationen der Frauen wurden zum Teil in Freizeitkleidung und Pumps aus ihren Wochenend-Lauben geholt und notdürftig in Uniformen mit Helmen gesteckt.
Die eingepferchten DemonstrantInnen standen Stunde um Stunde in der prallen Sonne. Es gab weder Essen noch Trinken. Männer wie Frauen mussten ihre Notdurft im Kessel nur von TeilnehmerInnen geschützt vor den Augen geifernder Polizisten verrichten.
Erst gegen 17 Uhr konnten sie unter Polizeibegleitung ein Klohäuschen benutzen und der damalige Bürgerschaftabgeordnete der Grün-Alternativen Liste Michael Herrmann vereinbarte mit dem Chef der Bereitschaftspolizei Lothar Arthecker, dass wenigstens Trinkwasser in den Kessel kam. Arthecker, der als harter Hund bekannt war, hatte schon frühzeitig bei seinen Vorgesetzten förmlich Beschwerde eingelegt, weil aus seiner Sicht der Kessel nicht aufrechterhalten werden könne.
Erinnerungen an Santiago de Chile
Erfolglos – das Polizei-Desaster nahm seinen Lauf. Bis 23 Uhr mussten die letzten DemonstrantInnen im Kessel ausharren. Als zu diesem Zeitpunkt unter dem Motto „Wir bringen die letzten nach Hause“ ein Konvoi aus 30 hupenden Taxis vorfuhr, geriet der damals berüchtigte Einsatzzug Mitte außer Kontrolle: Polizeibeamte demolierten die Droschken – genau wie am Vortag die Busse in Kleve.
In den meisten Hamburger Medien hieß es am nächsten Morgen, es sei eine „Schneise der Gewalt verhindert“ worden. Die Botschaft von Innensenator Lange hatte Früchte getragen. Lediglich der NDR und die taz zeichneten ein anderes Bild. Und die Stimmung schlug um. Sozialsenator Jan Ehlers (SPD) sprach davon, dass ihn die Bilder an die Ereignisse im Stadion von Santiago de Chile erinnerten, wo 1972 nach dem Militärputsch die Anhänger von Salvador Allende eingepfercht worden waren.
Vier Tage später demonstrierten 50.000 HamburgerInnen – angeführt von 100 Taxis – gegen Polizeiwillkür. Innensenator Lange trat wenig später zurück. Das Verwaltungsgericht erklärte das polizeiliche Handeln für rechtswidrig. Das Landgericht sprach 1991 vier führende Polizeiführer der Freiheitsberaubung in 861 Fällen schuldig. Es gründete sich das „Hamburger Signal“, die Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizisten.
Nichts gelernt
Die Polizeiführung hat daraus nichts gelernt. Zwar ist das Urteil zum Hamburger Kessel Gegenstand der Ausbildung an der Polizeiakademie, aber immer wieder kommt es in der Praxis vor, dass Polizeiführer den Befehl für eine lange Einkesselung großer Mengen Demonstranten ohne richterliche Anordnung geben – oftmals gegen die Bedenken der Polizeijuristen.
Gerade erst vor vier Wochen erklärte das Verwaltungsgericht erneut einen siebenstündigen Polizeikessel um 700 AntifaschistInnen beim Neonazi-Aufmarsch „Tag der deutschen Zukunft“ vor vier Jahren für rechtswidrig.
Damals hatten ausgerechnet die verdeckten Polizei-Ermittlerinnen Maria B. und Astrid O. maßgeblich dazu beigetragen, dass die Polizei sich berechtigt sah, das Instrument anzuwenden. Beide hatten darauf gedrungen, dass sich die stationäre Antifa-Kundgebung auflöste und als Demonstration provokant auf eine Polizeikette zu bewegte – für die Polizei Grund genug, einzuschreiten.
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