Jahresbilanz 2024 der Beratungsstellen: Im Schnitt werden jeden Tag 12 Menschen Opfer rechter Gewalt
Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt haben 2024 rund 3.500 rechte Angriffe erfasst – ein Anstieg um 20 Prozent und ein Höchststand.

Die Beratungsstellen erfassten einen neuen Höchststand bei rechten Angriffen: Sie verzeichneten insgesamt 3.453 Angriffe allein im Jahr 2024 – das sind knapp 10 pro Tag. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Anstieg um 20 Prozent. Insgesamt gebe es 4.681 Betroffene, im Schnitt würden täglich 12 Menschen angegriffen – so viele wie nie zuvor seit Erstellung dieser Statistik, in der nur 12 Bundesländer erfasst sind. Betroffen seien in wachsendem Ausmaß auch Kinder und Jugendliche – 697 von insgesamt 4.681 Betroffenen sind demnach minderjährig. Auch das ein neuer Höchststand.
Die Beratungsstellen veröffentlichen ihre Zahlen am selben Tag, an dem der neue Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) ebenfalls die offiziellen Zahlen zur politisch motivierten Kriminalität des Bundeskriminalamts vorstellt – auch um auf die Untererfassung rechter Gewalt durch Strafverfolgungsbehörden hinzuweisen. Tatsächlich zeichnet sich analog zum Umfragenhoch der AfD und Debatten um Abschiebungen auch für das Jahr 2025 bereits eine Fortsetzung der grassierenden rechten Gewalt ab.
Das häufigste Tatmotiv heißt laut den Opferberatungsstellen in rund 52 Prozent der Fälle (1.794 Taten) Rassismus. 15 Prozent und damit 542 Attacken richteten sich gegen politische Gegner*innen, 354 Angriffe und damit 10 Prozent seien antisemitisch motiviert gewesen, fast genauso häufig habe es LGBTIQ*-feindliche Taten (344) gegeben. Aber auch andere menschenfeindliche Motive (221), Nicht-rechts-Sein (119), Sozialdarwinismus (49) und Ableismus (19) hätten bei Angriffen eine Rolle gespielt. Besonders deutlich angestiegen seien Attacken auf politische Gegner*innen – um mehr als zwei Drittel im Vergleich zu 2023. Auch queerfeindliche Angriffe seien um 40 Prozent gestiegen.
Beratungsstellen fordern „Nationalen Aktionsplan“
Unter den Taten fänden sich eine Vielzahl schwerer Straftatbestände: Neben den 4 erwähnten Tötungsdelikten zählten die Beratungsstellen 29 versuchte Tötungen, 681 gefährliche Körperverletzungen, 1.143 einfache Körperverletzungen, 14 Körperverletzungen im Amt sowie 45 Brandstiftungen. Zudem habe es 1.212 Bedrohungen und Nötigungen gegeben, 172-mal sei es zu massiven Sachbeschädigungen gekommen sowie 74-mal zu sonstigen Gewalttaten wie Raub, Landfriedensbruch und Freiheitsberaubung.
Ein Schwerpunkt der Gewalttaten (ohne Bedrohungen, Nötigungen und massive Sachbeschädigungen) lag in Berlin und Hamburg, wo rund 10 Taten auf 100.000 Einwohner*innen kamen. Zudem lag die Zahl im Osten in Ländern wie Sachsen-Anhalt (8,3), Mecklenburg-Vorpommern (6,59) und Brandenburg (5,99) im Schnitt deutlich höher als im Westen. Durch die Beratungsstellen nicht erfasst wurden bisher Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und das Saarland.
„Die Bundesregierung muss auf den Flächenbrand rechter Gewalt mit politischen Konsequenzen und einem ressortübergreifenden Nationalen Aktionsplan reagieren“, forderte Judith Porath aus dem Vorstand des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) angesichts des Höchststands bei der Vorstellung der Zahlen in der Bundespressekonferenz.
Die Brutalität und Menschenverachtung, mit denen viele dieser Angriffe erfolgten, haben laut Porath gravierende Auswirkungen für Betroffene: jahrelange Ermittlungsverfahren, anhaltende Bedrohungen nach rassistischen Angriffen von Nachbar*innen, erzwungene Arbeits-, Ausbildungsplatz-, Schul- und Wohnortwechsel bis hin zur Aufgabe von politischen Mandaten – verbunden sei damit häufig der Verlust von Sicherheit, Arbeitsplätzen, Heimat und sozialen Netzwerken, so Porath.
Blinde Flecken in der Statistik
Auch die Rechtsanwältin und Nebenklagevertreterin Seda Başay-Yıldız forderte, dass der Rechtsstaat die Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt nicht im Stich lassen dürfe. Dazu gehöre 25 Jahre nach dem Mord an Enver Şimşek, dem ersten Opfer des rechtsterroristischen NSU, „dass Polizei und Justiz alle Hinweise auf Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus als Tatmotive in den Ermittlungsverfahren und den Wunsch vieler Betroffener nach vollständiger Aufklärung ernst nehmen müssen“, so Başay-Yıldız.
Auch 2024 gab es neben der Untererfassung in der offiziellen Statistik tatsächlich wieder einige blinde Flecken: Zuletzt wurde von den Sicherheitsbehörden beim Brandanschlag in Solingen mit 4 Toten ein rassistisches Tatmotiv vorschnell ausgeschlossen – im Laufe des Gerichtsprozesses stellte sich gar heraus, dass ein Polizeibeamter offenbar einen Vermerk gelöscht hatte, der die Tat als „rechts“ einordnete. Zahlreiche Hinweise auf eine rechtsextreme Gesinnung des Täters ignorierte die Polizei bei den Ermittlungen offenbar.
Der Staat „muss dafür Sorge tragen, dass rassistische und antisemitische Straftaten als solche erkannt und effektiv geahndet werden“, sagte Prof. Dr. Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Rassismus und Antisemitismus griffen das „Fundament unserer Verfassung“ an. Rudolf forderte, Verfahrensdauern zu verkürzen, Zugang zu Recht und Informationen zu erleichtern, zudem zivilgesellschaftliche Beratungsstrukturen zu schützen und finanziell abzusichern.
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