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Italienische AutorinnenSubversive Sprengkraft aus der Truhe

2024 ist ein gutes Jahr für italienische Schriftstellerinnen. Reihenweise werden fast vergessene Autorinnen wieder entdeckt.

Durfte unter den Faschisten nicht veröffentlichen: Paola Masino auf einer Aufnahme von 1931 Foto: Emilio Sommariva/Archivo GBB/laif

Im Jahr 2024 kehrt das Land, wo rote Bänke stehen, unter dem Motto „Verwurzelt in der Zukunft“ nach 36 Jahren als Ehrengast auf die Frankfurter Buchmesse zurück – und hat viele zeitgenössische Schriftstellerinnen im Gepäck:

Francesca Melandri mit ihrem neuen Roman „Kalte Füße“, Giulia Caminitos Debütroman „Das große A“ von 2016, der in deutscher Übersetzung bei Wagenbach bei uns erst in diesem Jahr erschien, ­Igiaba Scego, die mit der Schriftstellerin Isabelle Lehn über ihren Roman „Kassandra in Mogadischu“ spricht, und die 87-jährige Grand Dame der italienischen Literatur, Dacia ­Maraini, die ihren neuen Roman „Tage im August“ vorstellt.

Überhaupt ist 2024 bislang ein gutes Jahr für italienische Schriftstellerinnen: Donatella Di Pietrantonio gewann mit „L’età fragile“ die 78. Ausgabe des wichtigsten italienischen Literaturpreises Premio Strega. Der nonsolo Verlag, der junge italienische Au­to­r:in­nen ins Deutsche übersetzt, hat den Deutschen Verlagspreis 2024 gewonnen.

Und reihenweise italienische Schriftstellerinnen wurden in den vergangenen Jahren sowohl von ihren italienischen als auch von deutschen Verlagen wiederentdeckt: Goliarda Sapienza, Dolores Prato, Anna Maria Ortese, Alba de Céspedes oder Sibilla Aleramo. Deren autobiografisch gefärbter Roman „Eine Frau“ löste 1906 bei Ersterscheinen einen internationalen Skandal aus: Die namenlose Protagonistin lässt im Kampf um die Kontrolle über ihr eigenes Leben nämlich ihren gewalttätigen Ehemann, aber auch ihren Sohn zurück.

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Nie in den Kanon geschafft

Bei Papero Editore wurde letztens in der Reihe „Sorelle d’Italia“ die erste Science-Fiction-Autorin Italiens, Rosa Rosà, neu aufgelegt. Trotzdem laufen Schriftstellerinnen wie Michela Murgia oder Oriana Fallaci in ihrem Herkunftsland Gefahr, nach ihrem Tod schleichend dem Vergessen anheimzufallen.

Nicht, weil ihre geistige Arbeit nicht mehr zu den Menschen spräche. Fallacis Bücher – „Die Wut und der Stolz“, „Inschallah“, „Ein Mann“ oder „Brief an ein ungeborenes Kind“ – sind hochaktuell. Sondern, weil sie es nie in den toten, weißen und vor allem männlichen italienischen Literaturkanon geschafft haben.

Der hatte lange vor ihrer Geburt bereits weibliche Stimmen systematisch ausgeschlossen: 1870, pünktlich zur Geburt des Königreichs Italien, in der „Storia della letteratura italiana“ („Geschichte der italienischen Literatur“) des ersten italienischen Bildungsministers Francesco de Sanctis.

De Sanctis soll, um es mit den Worten des italienischen Philologen Federico Sanguineti zu sagen, „einen echten kulturellen Femizid“ begangen haben. Er habe, schreibt Sanguineti in seiner Essaysammlung „Per una nuova storia letteraria“, Schriftstellerinnen entweder ganz ausgelassen oder auf einige wenige Zeilen reduziert und Le­se­r:in­nen stattdessen aufgefordert haben, beispielhafte „weibliche Figuren“ in den Werken großer Schriftsteller zu entdecken.

Wer ist die einzige italienische Literaturnobelpreisträgerin?

De Sanctis Literaturgeschichte machte Schule. Und während italienische Verlage heutzutage auch aus ökonomischen Gründen um die Wiederaufnahme ausgemerzter Stimmen in ihr Programm bemüht sind, scheinen staatliche Schulen diesem recupero letterario gegenüber nach wie vor gleichgültig gegenüberzustehen. Ein italienisches Schulbuch behandelt selten mehr als fünf Schriftstellerinnen, und nur wenige Schü­ler:in­nen können die einzige Literaturnobelpreisträgerin ihres Landes, Grazia Deledda, beim Namen nennen.

Deledda, Elsa Morante, Natalia Ginzburg, Alda Merini oder Patrizia Valduga werden, im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen, selten ausführlich besprochen oder analysiert, sondern bleiben vielfach ungelesene Fußnoten, oft im Schatten ihrer vorgeblich beachtenswerteren Schriftsteller-Partner. Selbst dem nuancierten italienischen Schriftsteller Italo Calvino gelingt es im 1991 postum bei Mondadori erschienenen „Warum Klassiker lesen“ nicht, zwischen 35 Opera magna das Werk einer einzigen Schriftstellerin unterzubringen.

Schulen stehen diesem recupero letterario gleichgültig gegenüber

„A Celebration of Women Writers“, ein wachsender digitaler Katalog zu Schriftstellerinnen aus der ganzen Welt, kommt hingegen allein für Italien auf 400 Namen aus allen erdenklichen Epochen:

Die Schriftstellerin und Philosophin Christine de Pizan („Der Schatz der Stadt der Frauen“) sprach sich bereits im 14. Jahrhundert in Frankreich – wo sie ausgiebig gelesen wurde, während ihr Herkunftsland ihr literarisches Schaffen ignorierte – in der Debatte über die ­querelle des femmes (über die Geschlechterordnung in Texten und Bildern) gegen die im Spätmittelalter vorherrschende Frauenverachtung ihrer Kollegen aus.

Öffentliche Diskussion mit einem Humanisten

Die Gelehrte und Schriftstellerin Laura Cereta schrieb im 15. Jahrhundert Briefe, in denen sie für Frauenrechte in Bezug auf Bildung und innerhalb der Ehe eintrat. Isotta Nogarola, Schriftstellerin und Humanistin, führte Mitte des 15. Jahrhunderts sogar einen energischen Briefwechsel mit dem Humanisten Ludovico Foscarini, in dem die beiden auf Lateinisch diskutierten, ob Eva tatsächlich, wie der heilige Augustinus vermittelte, mehr Schuld an der Erbsünde trage als Adam. Das macht Isotta Nogarola zur ersten Frau der Renaissance, die eine öffentliche Diskussion mit einem Humanisten geführt hat.

Wie oft ihr Name an italienischen Schulen und Universitäten wohl erwähnt wird (beziehungsweise, bezugnehmend auf das 14. bis 19. Jahrhundert, überhaupt ein weiblicher Name)? Noch im Masterstudium der romanischen Literaturwissenschaft wird das völlige Fehlen von Frauen im Literaturkanon vor dem 20. Jahrhundert meist mit einem „Bedauerlicherweise hatten Frauen in jener Zeit keinen Zugang zu Wissen und Bildung“ abgetan.

Sie habe sich oft gefragt, schreibt die italienische Schriftstellerin Olga Campofreda in der überregionalen italienischen Tageszeitung Domani, was sich geändert hätte, wenn sie in der Schule neben Calvinos Cosimo, der das Leben auf der Erde ablehnt und beschließt, nur noch auf den Bäumen zu leben, die Geschichte von (Paola) Masinos kleiner Hausfrau entdeckt hätte, die sich weigert, aus ihrer Truhe herauszukommen.

Diesem ebenso bitteren wie humorvollen Roman („Die Geburt der Hausfrau und ihr Tod“) war wegen seiner subversiven Sprengkraft 1945 vom faschistischen Regime der Prozess gemacht worden. Der Roman geriet, ebenso wie seine Autorin, in Vergessenheit und wurde erst 2019 von Feltrinelli neu aufgelegt.

Gegen das Vergessen anschreiben

Dass das Fehlen von Frauen im Literaturkanon eine einseitige Weltsicht perpetuiere, in der die eine Seite davon ausgehe, dass die andere nichts getan habe oder dass, „wenn sie etwas geschrieben hat, es uninteressant war“, glaubt auch die italienische Lektorin und Gegenwartsautorin Giulia Caminito.

Die andere Seite hingegen, so Caminito im Interview mit dem digitalen italienischen Literaturmagazin Il Rifugio dell’Ircocervo, frage sich, „warum keine Schriftstellerinnen auf dem Programm stehen, warum wir in den Ferien keine Bücher von Schriftstellerinnen zu lesen haben, warum Frauen im historischen Kontext nicht vorkommen. Eine Präsenz durch Abwesenheit, die einige von uns dazu bringt, Nachforschungen anzustellen.“

In „Amatissime“ schreibt Caminito gegen das Vergessen von Schriftstellerinnen des italienischen Novecento an. In fünf Kapiteln verwebt sie den Roman ihres eigenen Lebens mit den Biografien von zwei bekannten – Ginzburg und Morante – sowie drei unbekannten Lieblingsschriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts: Laudomia Bonanni, Livia de Stefani, die in „La vigna di uve nere“ bereits 1953 über die Mafia schrieb, und, abermals, Paola Masino.

Sie würde sich freuen, sagt Caminito, wenn ihr Buch in Schulen gelesen würde, denn die Wiederentdeckung von Schriftstellerinnen durch die Schulen sei „unerlässlich“, um die „im Wesentlichen nach wie vor patriarchalische forma mentis der italienischen Gesellschaft“ fortwirkend zu verändern.

Mehr Frauen in die Schulbücher

Und wie hält man nun die vielen wiederentdeckten Schriftstellerinnen dauerhaft am Leben? „Indem man sie liest“, antwortet Giulia Caminito. „Ich glaube, dass für Schriftstellerinnen wie für Schriftsteller der Schulunterricht eine grundlegende Rolle spielt. Wenn die Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts in den Schulen gelesen und als Pflichtlektüre vorgeschlagen würden, gerieten sie sicher nicht in Vergessenheit. Es sind die Schulen, die sie in der allgemeinen Kultur lebendig halten.“

Eine Antwort auf die Frage „Italia, dove vai?“ („Italien, wie weiter?), die Caminito am Donnerstagabend mit den Schrift­stel­le­r:in­nen Melania G. Mazzucco, Francesca Melandri, Mario Desati, Gianrico Carofiglio und Paolo Rumiz in der Ro­man­fabrik im Rahmen der Frankfurter Buchmesse diskutiert, muss also lauten: Mehr Schwestern in die Schulbücher!

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