Israels neue Regierung ist vereidigt: Divers und zerbrechlich
Die Ära Netanjahu ist vorbei – vorerst zumindest. Naftali Bennett ist Israels neuer Regierungschef. Doch seine Koalition wackelt schon jetzt.
Ministerpräsident wird zunächst Naftali Bennett von der Siedlerpartei Jamina. In zwei Jahren soll ihn Jair Lapid, der bis dahin Außenminister sein wird, von der zentristischen Zukunftspartei ablösen. Zusammengesetzt ist die neue Regierung aus acht denkbar divergierenden Parteien von weit rechts nach links bis hin zur islamisch-konservativen Partei Ra'am, deren größter gemeinsamer Nenner der Wunsch war, Netanjahu seines Amtes zu entheben.
Likud-Abgeordnete störten Bennetts Eröffnungsrede im israelischen Parlament am Sonntagnachmittag kontinuierlich mit Zwischenrufen wie „Betrüger“ und „Schande“. Kaum einen Satz konnte er zu Ende sprechen. Zahlreiche Abgeordnete wurden vom Sicherheitspersonal des Sitzungssaales verwiesen.
Das Geschrei zeige die tiefe Spaltung Israels, die in Netanjahus Amtszeit entstanden sei, kommentierte Bennett. Er sprach sich in seiner Rede gegen eine Rückkehr zum internationalen Atomabkommen mit dem Iran aus und stellte eine gute Zusammenarbeit mit den USA und die Annäherung an weitere arabische Länder in Aussicht.
Lapid, der Architekt der neuen Regierungskoalition, der aber Bennett den Vortritt als Ministerpräsident lässt, sah angesichts der herrschenden Atmosphäre gänzlich davon ab zu sprechen. Er sagte lediglich ins Mikrofon, er hätte seine 86-jährige Mutter gern mit einer Rede stolz auf die Demokratie in Israel gemacht. „Stattdessen schämt sie sich nun, gemeinsam mit allen Bürger*innen Israels“, sagte er mit Verweis auf die Störer. Das erinnere daran, dass die Zeit für einen Regierungswechsel gekommen sei.
Während Netanjahus Rede blieb es im Parlament vergleichsweise still. Der scheidende Premier warf seinem Nachfolger „den größten Betrug in der israelischen Geschichte“ vor. Er warnte erneut vor „dieser gefährlichen, linken Regierung“. Bennett sei „fake rechts“.
Zahlreiche Sollbruchstellen
Die neue Regierung dürfte kein leichtes Spiel haben. Ob dieses breite und diverse Bündnis angesichts der zahlreichen Sollbruchstellen überhaupt die gesamte Legislaturperiode halten wird, darf bezweifelt werden. Expert*innen sind sich einig, dass die Zukunft der Regierung daran hängt, wie lange es gelingt, den Israel-Palästina-Konflikt und andere strittige Themen auszublenden und pragmatische Regierungsarbeit zu betreiben.
Genug zu tun gibt es: Zahlreiche wichtige Posten sind in den letzten Jahren unbesetzt geblieben. Der Staatshaushalt muss auf einen neuen Stand gebracht werden. Das Gesundheitssystem ist unterversorgt. Der öffentliche Verkehr muss modernisiert werden.
Ein Fortschritt in Sachen Friedenslösung ist nicht zu erwarten. „Diese Regierung wird in Bezug auf den großen Israel-Palästina-Konflikt wohl den Status Quo aufrechterhalten“, meint etwa Gideon Rahat, Politikprofessor an der Hebräischen Universität Jerusalem. „Das heißt, es wird keine Annexion geben, aber auch keine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen mit den Palästinensern.“
Doch gleichzeitig ist mit der islamisch-konservativen Partei Ra'am zum ersten Mal in der Geschichte Israels eine arabische Partei an der Regierung beteiligt – sieht man von arabischen Kleinstparteien ab, die kurz nach der Staatsgründung der damals herrschenden Arbeitspartei Mapai als Feigenblatt dienten.
Ra'am wird auf die großen Themen wie Siedlungsbau und Friedensverhandlungen kaum Einfluss nehmen können. Nach Einschätzung von Ronni Shaked vom Harry-S.-Truman-Forschungsinstitut für Friedensentwicklung wird sich Parteichef Mansour Abbas vor allem auf die Bedürfnisse der palästinensischen Bürger*innen Israels konzentrieren.
Herausholen konnte er etwa die rechtliche Anerkennung von beduinischen Dörfern in der Negevwüste und umgerechnet 13 Milliarden Euro des Haushalts für die arabische Gemeinschaft Israels. Die Beteiligung der arabischen Partei dürfte laut Shaked darüber hinaus vor allem einen kaum zu unterschätzenden Effekt auf die israelische Gesellschaft haben.
Mehr Einfluss für Reformjudentum
Die Ultraorthodoxen schäumen derweil. Auch während Bennetts Rede in der Knesset ließen ihre Vertreter Tiraden los. Als Teil der bisherigen Regierungskoalition unter Netanjahu konnten die Ultraorthodoxen mit großer Unterstützung rechnen. Unter der neuen Regierung soll zwar im Allgemeinen der Status quo in Sachen Staat und Religion beibehalten werden. Doch gleichzeitig sieht die Regierung Veränderungen vor, die die ultraorthodoxe Monopolstellung in Israel schwächen und dem Reformjudentum mehr Macht verleihen würden.
Einige der Parteien aus Lapids Mitte-Links-Block haben sich außerdem die Stärkung eines säkularen Israels auf die Fahnen geschrieben. „Bennett kann die Kippa abnehmen“, wetterte Yaakov Litzman, Vorsitzender der Partei United Torah Judaism, bereits vor Tagen gegen die Regierungskoalition und den modern-jüdischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett. „Der gesamte jüdische Charakter des Landes ist in Gefahr.“
Auf eine frühe Bestandsprobe gestellt wurde die Regierung bereits am Sonntagmittag, bevor sie überhaupt vereidigt war: Ein Ra'am-Abgeordneter hatte angesichts einer Abrissverfügung seines Hauses in der Negevwüste Zweifel angemeldet, eine Regierung unterstützen zu können, die nichts gegen die Politik unternehme, die solche Abrisse möglich macht. Medienberichten zufolge hatte Netanjahu in den letzten Tagen Druck auf den Abgeordneten ausgeübt, die neue Regierung nicht zu unterstützen.Es dürfte nicht Netanjahus letztes Bemühen gewesen sein, die neue Regierung zu torpedieren und sein Comeback bei einer potentiellen Neuwahl vorzubereiten. Ihm, der derzeit in drei Korruptionsfällen vor Gericht steht, liegt alles daran, auf den Thron zurückzukehren und von dort aus ein Immunitätsgesetz durchzubringen, mit dem er eine Freiheitsstrafe abwenden könnte. Er sei bereits in der Vergangenheit aus der Opposition zurück an die Macht gekommen, sagte Netanjahu in seiner Rede vor der Knesset.
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