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Israels neue Regierung ist vereidigtDivers und zerbrechlich

Die Ära Netanjahu ist vorbei – vorerst zumindest. Naftali Bennett ist Israels neuer Regierungschef. Doch seine Koalition wackelt schon jetzt.

Neuer Regierungschef: Bennett am Sonntag in der Knesset in Jerusalem Foto: ap

Tel Aviv taz | Ein Politthriller mit packendem Showdown hat am Sonntagabend ein vorläufiges Ende gefunden: Israels neue Regierung ist vereidigt. Benjamin Netanjahu, der das Land zwölf Jahre lang ununterbrochen regierte, ist abgelöst. 60 Abgeordnete stimmten am Sonntagabend für die neue Regierung, 59 dagegen.

Ministerpräsident wird zunächst Naftali Bennett von der Siedlerpartei Jamina. In zwei Jahren soll ihn Jair Lapid, der bis dahin Außenminister sein wird, von der zentristischen Zukunftspartei ablösen. Zusammengesetzt ist die neue Regierung aus acht denkbar divergierenden Parteien von weit rechts nach links bis hin zur islamisch-konservativen Partei Ra'am, deren größter gemeinsamer Nenner der Wunsch war, Netanjahu seines Amtes zu entheben.

Likud-Abgeordnete störten Bennetts Eröffnungsrede im israelischen Parlament am Sonntagnachmittag kontinuierlich mit Zwischenrufen wie „Betrüger“ und „Schande“. Kaum einen Satz konnte er zu Ende sprechen. Zahlreiche Abgeordnete wurden vom Sicherheitspersonal des Sitzungssaales verwiesen.

Das Geschrei zeige die tiefe Spaltung Israels, die in Netanjahus Amtszeit entstanden sei, kommentierte Bennett. Er sprach sich in seiner Rede gegen eine Rückkehr zum internationalen Atomabkommen mit dem Iran aus und stellte eine gute Zusammenarbeit mit den USA und die Annäherung an weitere arabische Länder in Aussicht.

Lapid, der Architekt der neuen Regierungskoalition, der aber Bennett den Vortritt als Ministerpräsident lässt, sah angesichts der herrschenden Atmosphäre gänzlich davon ab zu sprechen. Er sagte lediglich ins Mikrofon, er hätte seine 86-jährige Mutter gern mit einer Rede stolz auf die Demokratie in Israel gemacht. „Stattdessen schämt sie sich nun, gemeinsam mit allen Bür­ge­r*in­nen Israels“, sagte er mit Verweis auf die Störer. Das erinnere daran, dass die Zeit für einen Regierungswechsel gekommen sei.

Während Netanjahus Rede blieb es im Parlament vergleichsweise still. Der scheidende Premier warf seinem Nachfolger „den größten Betrug in der israelischen Geschichte“ vor. Er warnte erneut vor „dieser gefährlichen, linken Regierung“. Bennett sei „fake rechts“.

Zahlreiche Sollbruchstellen

Die neue Regierung dürfte kein leichtes Spiel haben. Ob dieses breite und diverse Bündnis angesichts der zahlreichen Sollbruchstellen überhaupt die gesamte Legislaturperiode halten wird, darf bezweifelt werden. Ex­per­t*in­nen sind sich einig, dass die Zukunft der Regierung daran hängt, wie lange es gelingt, den Israel-Palästina-Konflikt und andere strittige Themen auszublenden und pragmatische Regierungsarbeit zu betreiben.

Genug zu tun gibt es: Zahlreiche wichtige Posten sind in den letzten Jahren unbesetzt geblieben. Der Staatshaushalt muss auf einen neuen Stand gebracht werden. Das Gesundheitssystem ist unterversorgt. Der öffentliche Verkehr muss modernisiert werden.

Ein Fortschritt in Sachen Friedenslösung ist nicht zu erwarten. „Diese Regierung wird in Bezug auf den großen Israel-Palästina-Konflikt wohl den Status Quo aufrechterhalten“, meint etwa Gideon Rahat, Politikprofessor an der Hebräischen Universität Jerusalem. „Das heißt, es wird keine Annexion geben, aber auch keine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen mit den Palästinensern.“

Doch gleichzeitig ist mit der islamisch-konservativen Partei Ra'am zum ersten Mal in der Geschichte Israels eine arabische Partei an der Regierung beteiligt – sieht man von arabischen Kleinstparteien ab, die kurz nach der Staatsgründung der damals herrschenden Arbeitspartei Mapai als Feigenblatt dienten.

Ra'am wird auf die großen Themen wie Siedlungsbau und Friedensverhandlungen kaum Einfluss nehmen können. Nach Einschätzung von Ronni Shaked vom Harry-S.-Truman-Forschungsinstitut für Friedensentwicklung wird sich Parteichef Mansour Abbas vor allem auf die Bedürfnisse der palästinensischen Bür­ge­r*in­nen Israels konzentrieren.

Herausholen konnte er etwa die rechtliche Anerkennung von beduinischen Dörfern in der Negevwüste und umgerechnet 13 Milliarden Euro des Haushalts für die arabische Gemeinschaft Israels. Die Beteiligung der arabischen Partei dürfte laut Shaked darüber hinaus vor allem einen kaum zu unterschätzenden Effekt auf die israelische Gesellschaft haben.

Mehr Einfluss für Reformjudentum

Die Ultraorthodoxen schäumen derweil. Auch während Bennetts Rede in der Knesset ließen ihre Vertreter Tiraden los. Als Teil der bisherigen Regierungskoalition unter Netanjahu konnten die Ultraorthodoxen mit großer Unterstützung rechnen. Unter der neuen Regierung soll zwar im Allgemeinen der Status quo in Sachen Staat und Religion beibehalten werden. Doch gleichzeitig sieht die Regierung Veränderungen vor, die die ultraorthodoxe Monopolstellung in Israel schwächen und dem Reformjudentum mehr Macht verleihen würden.

Einige der Parteien aus Lapids Mitte-Links-Block haben sich außerdem die Stärkung eines säkularen Israels auf die Fahnen geschrieben. „Bennett kann die Kippa abnehmen“, wetterte Yaakov Litzman, Vorsitzender der Partei United Torah Judaism, bereits vor Tagen gegen die Regierungskoalition und den modern-jüdischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett. „Der gesamte jüdische Charakter des Landes ist in Gefahr.“

Auf eine frühe Bestandsprobe gestellt wurde die Regierung bereits am Sonntagmittag, bevor sie überhaupt vereidigt war: Ein Ra'am-Abgeordneter hatte angesichts einer Abrissverfügung seines Hauses in der Negevwüste Zweifel angemeldet, eine Regierung unterstützen zu können, die nichts gegen die Politik unternehme, die solche Abrisse möglich macht. Medienberichten zufolge hatte Netanjahu in den letzten Tagen Druck auf den Abgeordneten ausgeübt, die neue Regierung nicht zu unterstützen.Es dürfte nicht Netanjahus letztes Bemühen gewesen sein, die neue Regierung zu torpedieren und sein Comeback bei einer potentiellen Neuwahl vorzubereiten. Ihm, der derzeit in drei Korruptionsfällen vor Gericht steht, liegt alles daran, auf den Thron zurückzukehren und von dort aus ein Immunitätsgesetz durchzubringen, mit dem er eine Freiheitsstrafe abwenden könnte. Er sei bereits in der Vergangenheit aus der Opposition zurück an die Macht gekommen, sagte Netanjahu in seiner Rede vor der Knesset.

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10 Kommentare

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  • Nur eine Kleinigkeit, aber eine Koalition mit Bennetts Jamina, den Islamisten, Ganz (dessen Partei noch vor dem Ende der alten Regierung ein Gesetz eingebracht hat nachdem zukünftig auch arabische Israelis in der Westbank inhaftiert werden können) und Lieberman ist alles andere als MITTE-Links. Nach allen Maßstäben sind Bennett und Lieberman rechts außen. Lapids Partei ist auch ziemlich kurios, innerparteiliche Demokratie scheint es nur sehr eingeschränkt zu geben, es ist seine Partei, die Knessetkandidaten bestimmt er persönlich. Er entscheidet letztlich über die Politik seiner Partei. Das also ist Mitte in Israel.

  • Erstmal geht es darum, das Bibi nicht mehr so stark in den Prozess gegen sich eingreifen kann.

    Wenn der erstmal in Maasiyahu einsitzt, kann man ja weitersehen, Politik der kleinen Schritte...

  • "Fake rechts" zu sein ist schon ein lustiger Vorwurf, lieber Bibi...

    Das Experiment ist schon interessant und irgendwie faszinierend. Wichtigste Beobachtung an dem ganzen Geschehen: Die Demokratie und der friedliche Machtwechsel funktionieren in Israel - bei allen demokratischen Defiziten, die es auch noch geben mag. Wenn tatsächlich eine Annäherung an weitere arabische Länder zustande kommt, wäre für die Region schon viel gewonnen. Ein direkter Friedensdialog mit den Palästinensern wäre natürlich noch besser. Doch mit wem soll die Regierung eigentlich reden? Wer spricht konstruktiv und mit Augenmaß für die Palästinenser?

    • @Winnetaz:

      Immer wieder die selbe alte Leier von wegen "keine Gesprächspartner auf der anderen Seite". Aber mit absolutistischen Monarchen aus VAE, die ihre eigenen Ehefrauen entführen, wegsperren und Demokratie auch nur vom Hörensagen kennen; Generalissimussen wie Al- Sisi der nach neuesten Erkenntnissen im Anschluss an seinem Putsch bei den Protesten mehr Menschen hat niederschießen lassen als die KPCh auf dem Tiananmen, von der Flut politischer Gefangener seitdem ganz zu schweigen; einem Bahreinischen Monarchen der sich im Arabischen Frühling nur halten konnte dank Militärintervention Saudi- Arabiens u VAE - mit denen kann man doch auch sprechen, die haben ihre Beziehungen zu Israel normalisiert und sollten dafür u.a. F-35 haben dürfen. Win- Win. Und eine weitere Annäherung an weitere arabische Staaten, die ähnlich aufgestellt sind, sollte was genau bringen? Libanon oder Syrien wären die einzigen sicherheitsrelevanten Annäherungen, aber da ist nichts in Aussicht. Derweil in Israel: Sohn Yair Netanyahu schickt per Insta die Wohn-Adressen der renitenten Abgeordneten herum, damit der Mob ihnen einheizt, nicht zum ersten Mal, bloß nicht für eine andere Regierung zu stimmen. Faszinierend, nicht wahr? Eine Koalition von Linkspartei bis AfD und AfD und FDP rotieren den Kanzlerposten untereinander, fänden Sie demnach auch ganz spannend (wobei die Alternative, die CDU, selbst schon zu einer Art AfD mutiert wäre). Als demokratietheoretisches Laborexperiment, mit der Frage "wo liegt der Breakingpoint?", sicher. Für diejenigen die darin leben müssen, besorgniserregend bis beängstigend (lässt man den Gewöhnungseffekt über die Zeit außer Acht). Kommt lateinamerikanischen Bananenrepubliken schon ziemlich nahe. Aber wenn für Sie alles in Butter ist..., na dann.

  • Ich stimme Ihnen voll und ganz zu.

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Sollten wir auch machen - AfD als stärkste Partei, dann Grüne, CDU, Linke - auf FDP kann man verzichten.



    Also von ganz rechts nach ganz links - etwas Bekloppteres habe ich noch nie gehört.

    • @17900 (Profil gelöscht):

      Dieses Prinzip, aus möglichst vielen Parteien eine Regierung zu bilden, nennt sich Konkordanzdemokratie und ist in der Schweiz seit Jahrzehnten üblich.

      Der Schweizer Bundesrat aus 7 Personen besteht daher jeweils aus 2 Personen der 3 stärksten Parteien und 1 Person der 4. stärksten Partei.

      Aktuell 2x SVP (Nationalkonservativ), 2×SP (Sozialdemokratisch), 2x FDP (Liberal) und 1x CVP (Christdemokraten).

      de.m.wikipedia.org...nkordanzdemokratie

      Natürlich wird es in Israel nicht so stabil werden wie in der Schweiz, aber die Idee an sich ist nicht neu.

      • @Sven Günther:

        Wusste gar nicht, dass es für diese Art größte Koalition einen eigenen Begriff gibt. Wieder was dazugelernt. Danke für die Aufklärung

    • @17900 (Profil gelöscht):

      Das stimmt wohl. Allerdings gibt es in Israel keine wirkliche ideologische Linke wie man es aus Deutschland z.B. kennt.

      • @Papalucas:

        Natürlich gibt es in Israel ideologische Linke, auch in der Knesset (Meretz), sie ist inzwischen nur nicht mehr so stark wie früher.