Israel billigt Teil der Justizreform: Mit voller Kraft in die Krise
Israel hat den ersten Teil der Justizreform angenommen. Zuvor waren Kompromissversuche gescheitert. Nach dem Sommer geht es weiter.
Vor dem Parlament in Jerusalem trieben Wasserwerfer hunderte Demonstrierende auseinander, die dort kampiert hatten und nun den Eingang blockierten. Mehrere Personen wurden mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert, erneut gab es Festnahmen.
Das eigentliche Drama aber spielte sich im Innern der Knesset ab. Am Nachmittag billigte das Parlament das erste Kernelement der seit Monaten umkämpften Justizreform. 64 Abgeordnete stimmten für die Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsklausel, die restlichen 56 boykottierten das Votum und verließen den Saal. Zuvor waren Versuche gescheitert, in letzter Minute doch noch einen Kompromiss zu finden. „Mit dieser Regierung ist es unmöglich, Vereinbarungen zu treffen, die die israelische Demokratie bewahren“, so Oppositionsführer Jair Lapid.
Während andere Teile der anvisierten Justizreform derzeit eingefroren sind, geht es bei der am Montag beschlossenen Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsklausel um eine wichtige Befugnis des Obersten Gerichts. Die Klausel hat dem Gericht bislang die Möglichkeit gegeben, Entscheidungen von Regierungsmitgliedern und anderen Amtsträgern als „unangemessen“ einzustufen, wenn sie nach Meinung der Richter*innen nicht im Interesse der Allgemeinheit sind.
Justiz kann nicht mehr so leicht dazwischenfunken
Sobald die neue Regelung in Kraft tritt, heißt das: Wenn die Regierung eine umstrittene Personalie auf einen bestimmten Posten hieven will, wird die Justiz ihr nicht mehr so leicht dazwischenfunken können. Andere Wege der Kontrolle bleiben der Justiz allerdings offen. „Wir haben den ersten Schritt in einem historischen Prozess getan, um das Justizsystem zu korrigieren“, jubelte Justizminister Jariv Levin nach der Abstimmung.
Das Oberste Gericht hatte zuletzt Anfang des Jahres von der Angemessenheitsklausel Gebrauch gemacht: Es stufte die Ernennung von Arie Deri, des Vorsitzenden der Koalitionspartei Schas, zum Innenminister der damals neuen Netanjahu-Regierung als „unangemessen“ ein.
Deri, ein loyaler Verbündeter Netanjahus, war in der Vergangenheit dreimal verurteilt worden, unter anderem wegen Steuerhinterziehung und Bestechung. Das Gericht entschied, dass er nicht geeignet sei, der Allgemeinheit „loyal und gesetzestreu zu dienen“. Nach der Gerichtsentscheidung musste der Regierungschef sich dem Druck beugen und Deri entlassen.
Die am Montag beschlossene Gesetzesänderung ist nur ein Teil der geplanten umfassenden Neugestaltung des israelischen Justizwesens und des Rechtsstaats. Die Reform soll die Justiz des Landes schwächen und im Gegenzug der Regierung und dem Parlament deutlich mehr Handlungsspielraum einräumen.
Netanjahu ist ein Getriebener
Während das Reformvorhaben das Land in eine schwere innenpolitische Krise gestürzt hat, scheint dem Regierungschef zunehmend die Kontrolle zu entgleiten. Nicht nur hat Netanjahu weite Teile der Bevölkerung gegen sich und seine Regierung aufgebracht.
Auch rief ein Zusammenschluss von 150 großen israelischen Unternehmen einen Streik aus. Am Montag blieben einige Einkaufszentren, Tankstellen und Banken geschlossen. Außerdem – besonders heikel in einem kleinen, von außen bedrohten Staat wie Israel – haben Teile der Streitkräfte mit einem Boykott gedroht für den Fall, dass die Reform der Angemessenheitsklausel angenommen wird.
Aber auch innerhalb seiner eigenen Koalition scheint Netanjahu zunehmend der Getriebene zu sein. Der Minister für Nationale Sicherheit, der rechte Hardliner Itamar Ben-Gvir, hatte vor der Abstimmung am Montag erneut seine Muskeln spielen lassen: „Jeder Abstimmungskompromiss über das Angemessenheitsgesetz wäre eine Schande für den gesamten rechten Flügel“, sagte er. Israelische Medien berichteten am frühen Nachmittag unter Berufung auf Quellen in der Regierungskoalition, dass Ben-Gvir und Justizminister Levin sogar gedroht hatten, die Regierung platzen zu lassen, sollte die Gesetzesänderung abgeschwächt werden.
Ein Zerplatzen der Regierungskoalition inmitten des aktuellen Chaos könnte für den vielmaligen Regierungschef Netanjahu das endgültige politische Aus bedeuten. Netanjahu bekommt nun die Rechnung dafür präsentiert, dass er sein eigenes politisches Überleben (mit dem aufgrund eines Korruptionsprozesses auch persönliche Interessen verbunden sind) rechten Hardlinern in die Hände gelegt hat, die sich nun als unwillig erweisen, beim geplanten Umbau des Staates Kompromisse zu machen.
Der israelische Analyst Anshel Pfeffer äußerte am Montag, Netanjahu habe jeglichen Einfluss darauf verloren, wie „die verhängnisvollste innenpolitische Krise in Israels Geschichte“ ausgeht. „Er ist nun der schwächste Regierungschef, den Israel je hatte“, schreibt Pfeffer in der Tageszeitung Haaretz. „Benjamin Netanjahu ist irrelevant geworden.“
Nach der Sommerpause soll es weitergehen
Dass die Lage sich in den letzten Tagen derart zugespitzt hat, liegt auch daran, dass das israelische Parlament ab nächster Woche bis Oktober in der Sommerpause ist. Die Regierung wollte offenbar noch zuvor zumindest einen Teil der Justizreform in trockene Tücher bringen.
Denn andere Reformvorhaben liegen aktuell auf Eis, was nicht zuletzt auf den Druck der Protestbewegung zurückzuführen ist. Seit mehr als sieben Monaten gehen wöchentlich zehn- bis hunderttausende Menschen auf die Straße, um für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu demonstrieren. Sie sehen in der Schwächung der Justiz die Gefahr, dass die Gewaltenteilung faktisch abgeschafft wird.
Nicht vom Tisch, aber in der Schwebe ist derweil beispielsweise ein anderer zentraler Teil der Justizreform: die höchst umstrittene Regelung, der zufolge das Parlament Entscheidungen des Obersten Gerichts künftig überstimmen könnte beziehungsweise bestimmte Gesetze verabschieden könnte, die von vornherein von der Kontrolle durch die Justiz ausgenommen sind. Die diesbezügliche Gesetzgebung wurde im März zunächst vertagt und wird aktuell nicht weiter vorangetrieben.
Ebenfalls in Warteposition ist ein dritter zentraler Streitpunkt: die Reform des Komitees, das für die Ernennung von Richter*innen zuständig ist. Das Gremium ist zusammengesetzt aus Vertretern aus Politik und Justiz. Die Regierung möchte dem Lager der politischen Vertreter – und damit der jeweils regierenden Koalition – mehr Macht geben. Die Gesetzesänderung soll erst ab Oktober wieder angegangen werden.
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