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Islamisten in AfghanistanTotal verfeindet

Die Taliban und der IS-Ableger ISKP bekämpfen sich. Sie unterscheiden sich ideologisch. Doch die Zivilbevölkerung muss unter beiden leiden.

Ein schwerbewaffneter Taliban-Kämpfer am Donnerstag in Kabul Foto: J.B. Victor/NYT/Redux/laif

Berlin taz | Zu den beiden brutalen Selbstmordanschlägen am Kabuler Flughafen am Donnerstagabend hat sich der afghanisch-pakistanische Ableger des sogenannten Islamischen Staates (ISKP) bekannt. Dies wurde sowohl über den Nachrichtenkanal der in Syrien und Irak agierenden IS-Zentrale als auch direkt vom ISKP über soziale Medien verbreitet.

ISKP steht für „Islamischer Staat der Khorasan-Provinz“ und ist ein Franchise der IS-Zentrale. 2015 hatten lokale Islamistengruppen aus Pakistan und Afghanistan im Grenzgebiet beider Länder ihren Anschluss an den IS erklärt. Der erkannte sie als Teil seines Netzwerks an, ohne dass zumindest anfangs direkte Verbindungen bestanden.

Am letzten Tag der Evakuierungen aus Afghanistan versetzte die Gruppe ihren beiden Hauptfeinden, dem Militär der bisherigen Hauptbesatzungsmacht USA und den rivalisierenden Taliban, noch einen empfindlichen Schlag. Der Doppelanschlag kam aber nicht ohne Warnung, die gab es seit einigen Tagen.

Die Londoner Times zitierte Sicherheitsexperten, denen zufolge der ISKP schon in den Vortagen den Flughafen ausgespäht habe. Sie verwiesen auf einen Vorfall am Montag, bei dem ein nicht identifizierter Angreifer einen afghanischen Soldaten erschoss, offenbar um die Reaktionsmuster der Sicherheitskräfte zu testen.

Nicht vollständig unter Kontrolle

Trotz der Warnungen waren das in seinem Aktionsradius nur noch auf den Flughafen beschränkte US-Militär und die mit ihm dort verschanzten bewaffneten Einheiten des Geheimdienstes der gefallenen afghanischen Regierung nicht mehr in der Lage, die Attentäter abzufangen.

Aber was in seinen Konsequenzen für Afghanistan schwerer wiegt: Auch die nun an der Macht befindlichen Taliban schafften das nicht. Das zeigt, dass sie – wie alle Regime der letzten 40 Jahre – das Land nicht vollständig kontrollieren und es Spielräume für verfeindete Gruppen gibt.

Darüber, ob der ISKP vielleicht im Auftrag eines Geheimdienstes handelte oder unterwandert und instrumentalisiert wurde, kann man nur spekulieren. Auszuschließen ist das angesichts der vielfältigen regionalen und globalen Konflikte, die auf afghanischem Boden ausgetragen werden, nicht.

Wie in allen Phasen der seit 1978 ununterbrochenen afghanischen Bürgerkriege trägt erneut die Zivilbevölkerung – in diesem Fall die vor den Taliban Flüchtenden – die größte Opferlast. Wie alle Parteien in diesem Konflikt nimmt auch der ISKP keine Rücksicht auf Zivilist:innen. Wegen der terroristischen Mittel, die auch die Taliban einsetzen, sieht die betroffene Zivilbevölkerung keinen Unterschied zwischen beiden Organisationen.

Getrennte Welten

Dabei trennen sie politisch-ideologisch Welten: Der IS strebt ein weltweites islamisches Kalifat an, die Taliban ein nationales Emirat. Emirate kann es mehrere geben, wie die Vereinigten Arabischen Emirate oder eben das Islamische Emirat Afghanistan, die offizielle Selbstbezeichnung der Taliban. Sie können deshalb als national-islamistische Bewegung bezeichnet werden, während es sich beim IS um global ambitionierte Dschihadisten handelt.

Seitdem es den ISKP in der afghanischen Kriegsarena gibt, seit 2015 also, herrscht zwischen ihm und den Taliban erbitterte Feindschaft. Damals, nach dem Ende des ISAF-Einsatzes und dem Abzug der meisten Natotruppen, sahen die Taliban den Sieg bereits am Horizont. Eine islamistische Konkurrenz konnten sie nicht gebrauchen.

Mitte 2015 schrieben sie freundlich, aber bestimmt an den später umgekommenen IS-Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi im syrischen Raqqa, seine Gruppe möge sich aus Afghanistan heraushalten und die „islamische Bewegung“ nicht spalten.

Baghdadi schlug die Warnung in den Wind. In sechs afghanischen Provinzen entstanden ISKP-Ableger aus radikalisierten afghanischen Studenten, Taliban-Dissidenten und pakistanischen Splittergruppen, die von Afghanistan aus operieren. Salafistische Onlinekrieger leisteten Rekrutierungshilfe. Die Gruppe profitierte kurzzeitig von internen Führungskämpfen bei den Taliban.

Salafistische Gemeinden

Die Taliban aber gingen sofort gegen die ISKP-Gruppen vor. Wer nicht kapitulierte, wurde umgebracht. Nur eine Gruppe überlebte in entlegenen Bergregionen Ostafghanistans. Dort gab es salafistische Gemeinden, die mit den Ideen des IS sympathisierten. Aber auch die hatten bald genug von der Terrorherrschaft der Gruppe, die sich auch schnell gegen sie wandte.

ISKP-Kommandeure zwangsverheirateten Frauen, richteten örtliche Stammesführer hin, die Kritik übten, und vertrieben alle, die sich nicht ihren strengen Regeln unterwerfen wollten. Auch Minderjährige wurden zwangsrekru­tiert.

Die lokalen Gemeinschaften stellten Selbstverteidigungsmilizen auf und riefen die Taliban und die Regierung zu Hilfe. Ende 2019 und Anfang 2020 kam es zu zwei großen Offensiven, bei denen Taliban, Regierungstruppen und US-Truppen kooperierten. Die afghanische Armee transportierte Talibankämpfer ins Kampfgebiet, das US-Militär bombardierte ISKP-Stellungen und vertrieb den ISKP von seinen territorialen Basen.

Jetzt, nach der Einnahme Kabuls, holten die Taliban in Kabul einsitzende ISKP-Spitzen, darunter Anführer Abu Omar Khorasani, aus dem Gefängnis und erschossen sie. Auch das kommt als Motiv für den Flughafenanschlag in Frage, denn dort standen auch Talibanwachen.

Aber auch wenn das von den ostafghanischen Basen unabhängige ISKP-Untergrundterror­netz überlebte, spielt die Gruppe im strategischen Kräfteverhältnis Afghanistans keine Rolle mehr. Ohne lokale Basis wird das auch nicht wieder der Fall sein. Die Taliban sind dem ISKP haushoch überlegen, auch wenn die Gruppe weiter fähig ist, vereinzelt blutige Anschläge zu verüben.

Mitarbeit: Obaid Ali und Khalid Gharanai

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9 Kommentare

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  • 0G
    02854 (Profil gelöscht)

    Naja, Afghanistan ist abgeschlossen! Vielleicht können noch ein paar NGOs gegen Geld ein paar Leute von den Taliban freikaufen. Eine weitere Einnahmequelle. So wie damals in der DDR.

  • Sollte es nicht heißen "Doch die Zivilbevölkerung muss unter Biden leiden"?

    • @Kai Nothdurft:

      Ein sehr inhaltsreicher Artikel, der hilft, die Ereignisse zu verstehen/ einzuordnen.



      Einzig der Satz



      "Am letzten Tag der Evakuierungen aus Afghanistan versetzte die Gruppe ihren beiden Hauptfeinden, dem Militär der bisherigen Hauptbesatzungsmacht USA und den rivalisierenden Taliban, noch einen empfindlichen Schlag. "



      gefiel mir nicht, denn er übernimmt die Perspektive der Täter. Der Großteil der Ermordeten waren nicht Taliban oder US-Militärs, sondern Zivilisten, die sich im Umfeld des Flughafens aufhielten.

    • @Kai Nothdurft:

      Nein, denn hier kämpfen Afghanen gegen Afghanen und wir sollten aufhören, ständig den "Westen" (also uns) für alles auf der Welt verantwortlich zu machen. Und das schreibe ich nicht mit dem Ziel der Verantwortungsabwehr (zweifellos ist der Westen für manches verantwortlich), sondern im Kampf gegen die Hybris der Überheblichkeit, wir seien der Nabel der Welt und quasi "allmächtig" und überlegen.

    • @Kai Nothdurft:

      Nein, denn die USA und damit Mr. Biden sind für Afghanistan schon fast Vergangenheit. Wenn also der gemeinsame Feind von IS und Taliban weg ist, werden sie beide übereinander herfallen, womit bekanntlich schon begonnen wurde. Als Partisanen, die sie beide sind, werden sie sich stets hinter Zivilisten verstecken, die alles auszubaden haben.

      • @Pfanni:

        Ach, das haben Sie jetzt gerade mal so entschieden,dass Biden und die USA für Afghanistan berits Vergangenheit sind. Nach 20 Jahren Einsatz, glauben Sie, hat die Zivilbevölkerung nicht unter den Folgen zu leiden? Müsste ja nach ihrer Theorie dann für Vietnam beispielsweise genauso gegolten haben. Amis zogen ab, und gehörten ab die für die Zivilbevölkerung der Vergangenheit an.



        Macht mich sprachlos.



        Wie sehr die USA in Kabul der Vergangenheit angehören, haben die bei dem gestrigen US-Vergeltungsschlag getöteten Kinder gerade zu spüren bekommen.



        Ich bin wirklich überrascht solche, in meinen Augen unreflektierten Kommentare (ebenso wie den von Berliner) hier in der TAZ zu lesen.

        • @grenzgängerin:

          Mal der Reihe nach.



          1. Um es präziser zu sagen: Die Afghanen hatten bisher unter den Kämpfen zwischen den untereinander verfeindeten Gruppen EINSCHLIEßLICH USA zu leiden. Künftig werden die Kämpfe OHNE Eingreifen der USA weitergehen, insbes. zwischen Taliban und IS. Das Leid der Afghanen wird ohne USA nicht geringer sein.



          2. Betr. Vietnam: Die Feindschaft scheint inzwischen abgeflaut zu sein. Die TAZ meldete: „Mit dem früheren Kriegsgegner USA hat Hanoi seit 1995 wieder diplomatische Beziehungen. Seit Bill Clinton hat jeder US-Präsident mindestens einmal Vietnam besucht. Wirtschaftlich brummt der Handel.“ taz.de/Islamisten-...bb_message_4175682



          3. Betreffs „US-Vergeltungsschlag“: Hier ging es nicht um Vergeltung, sondern darum, den IS-Terroristen zu hindern, sein tödliches Werk fortzuführen. Dabei bestand nur die Wahl zwischen einer „schlechten“ und einer „ganz schlechten“ Entscheidung. Hätte man ihm erlaubt, weiterzumachen, wären noch viel mehr Menschen umgekommen; darunter hauptsächlich Zivilisten. Ich bin froh, dass nicht ich die Entscheidung zu treffen hatte!

    • @Kai Nothdurft:

      Nein, denn Biden ist nicht in Afghanistan.

      • @Ber.lin.er:

        Meinen Sie ihre Aussage Ernst, oder ist das Sarkasmus?



        Seit wann muss ein Politiker unter dessen Politik Menschen leiden vor Ort sein?



        Bei dem Vergeltungsschlag, der auf Bidens Konto geht, wurden übrigens (wie üblich, wenn die USA Terroristen jagt) auch Ziviisten getötet.



        Afghanische Offizielle sprechen laut The Guardian vn drei Kindern, CNN von 9 Mitgliedern einer Familie,darunter 6 Kinder. Auch wenn die Zahen noch nicht bestätigt sind, hat es jedenfalls Kinder getötet worden.



        Vor dem Hintergrund finde ich ihre Aussage noch schlimmer. Und kann nur sagen, Kai hat doch vollkommen Recht.