Irak nach dem Systemsturz in Syrien: „Niemand will mehr kämpfen“
Wie blicken Menschen im Irak auf die Umbrüche im Nachbarland Syrien? Christen machen sich Sorgen. Café-Besucher wollen nichts von Politik wissen.
Wir kennen diese Leute. Wir haben nicht vergessen, was al-Qaida, was der Islamische Staat uns angetan haben. Wenn al-Jolani nun behauptet, er habe sich von diesen Wurzeln abgewandt, ich glaube es nicht.“ Nadheer Dako, Priester und Gemeindevorsteher der chaldäischen St.-Josephs-Kathedrale in Bagdad, schaut mit großer Skepsis auf die Ereignisse im Nachbarland Syrien.
Am 27. November hatte die Rebellengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) unter dem Anführer Abu Mohammed al-Jolani von der syrischen Region Idlib aus eine Offensive gestartet, bei der sie nur auf geringen Widerstand von Regierungstruppen stieß. Binnen weniger Tage eroberte die Rebellengruppe, die früher als Nusra-Front bekannt war und Verbindungen zu al-Qaida hatte, mehrere Großstädte, darunter Aleppo und Damaskus.
Die taz trifft Pater Dako in seinem Büro neben der Kirche, zwei Tage bevor die Rebellen Präsident Baschar al-Assad stürzen und er nach 24 Jahren Herrschaft nach Russland flieht. „Al-Jolani hat versprochen, die Christen in Syrien zu akzeptieren und zu schützen. Es wäre ein echtes Wunder, wenn dieses Versprechen eingehalten wird. Aber was sollen wir tun?“ Pater Dako schüttelt etwas resigniert den Kopf. „Wir werden tun, was wir immer getan haben. Uns anpassen oder flüchten.“
Pater Nadheer Dako
Nadheer Dako weiß aus eigener Erfahrung, dass seine Sorgen um die Gemeinde im Nachbarland – wo neben dem Irak viele ihrer Mitglieder leben – begründet sind: Vor dem Einmarsch der USA im Jahr 2003, so erzählt er, „bestand unsere Gemeinde aus rund 20.000 Mitgliedern. Die katholische chaldäische Kirche im Irak und unsere Sankt-Josephs-Gemeinde in Bagdad, wir waren neben Mossul die größte christliche Gemeinschaft im Irak.“
„Islamisten ist nicht zu trauen“
Heute gehörten zur chaldäischen Kirche in Bagdad vielleicht noch eintausend Menschen. „Die anderen sind nach dem Zusammenbruch der staatlichen Strukturen nach dem Sturz Saddam Husseins zunächst vor schiitischen und sunnitischen Extremisten geflüchtet, später von al-Qaida oder Daesch (Islamischer Staat, die Red.) getötet worden.“ „Islamisten“, so das Fazit von Pater Dako, „ist nicht zu trauen.“
Nach der Einnahme Syriens hatten sich Abgesandte der HTS mit Kirchenvertretern getroffen und ihnen zugesichert, ihren Glauben weiter leben zu dürfen. Dass in den bisher von der HTS kontrollierten Gebieten aber etwa Kreuze im öffentlichen Raum untersagt waren, lässt die Christinnen und Christen skeptisch bleiben.
In einem Interview mit der katholischen Nachrichtenagentur Agensir nach dem Fall Assads sagte der Patriarch der Kirche von Nadheer Dako: „Die bewaffneten Oppositionsführer, die die Macht ergriffen haben, sagen, dass sie ein ziviles Regime wollen.“ Ein neues Syrien, das die Menschenrechte achte und dessen Regierung alle politischen und sozialen Akteure der Gesellschaft einbeziehe. „Wir hoffen, dass sie das ernst meinen.“
Hoffnung auf Ruhe
Andere Menschen in Bagdad sind weniger skeptisch. Sie hoffen, dass ihr Nachbarland jetzt endlich zur Ruhe kommt. „Niemand will mehr kämpfen“, sagt Hassan, ein ungefähr 30-jähriger Mann, den die taz in einem der traditionellen Teehäuser in der Altstadt von Bagdad trifft. Er findet es wichtig, dass HTS-Führer al-Jolani gesagt hat: „Die Zeit der Kriege ist vorüber.“
Offiziell war die schiitische Parteienkoalition, die derzeit in Bagdad die Regierung stellt, mit dem syrischen Herrscher Baschar al-Assad freundschaftlich verbunden. Die Regierung und die sie stützenden schiitischen Milizen sind enge Verbündete des Iran – manche in Bagdad bezeichnen sie gar als iranische Vasallen. Entsprechend rang sich Ministerpräsident Mohammed Shia al-Sudani wenige Tage vor dem Fall von Damaskus noch dazu durch, Assad militärische Unterstützung von irakisch-schiitischen Milizen zu versprechen.
Doch als dann eine einzige schiitische Miliz tatsächlich Richtung Damaskus aufbrechen wollte, wurde sie unmittelbar hinter der Grenze von in Syrien stationierten US-Truppen bombardiert und zog sich schnell wieder zurück. Der einflussreiche schiitische Geistliche, Politiker und Milizenführer Muqtada as-Sadr, der schon länger auf Abstand zum Iran drängt, gab gleich die Parole aus, kein schiitischer Kämpfer werde mehr Assad zu Hilfe eilen. Angesichts dieser Reaktionen wollte Ministerpräsident al-Sudani dann auch nur noch die Grenze zwischen Irak und Syrien besser sichern und ließ den Grenzübergang schließen. Die vormalige sogenannte „Achse des Widerstands“, die vom Iran über den Irak nach Syrien bis zur Hisbollah in den Libanon reichte, endete damit bereits im Irak.
„Wir sind müde von den Kriegen“
Für die meisten Einwohner von Bagdad ist es deshalb indirekt auch eine Erlösung, dass es mit Assad nun zu Ende gegangen ist und sie keine Verpflichtung mehr haben, ihn oder die Hisbollah im Libanon noch zu unterstützen. „Wir sind so unglaublich müde von den ganzen Kriegen“, sagt die Journalistin Kholoud Alamiry, die von Bagdad aus die Website „al-menasa.net“ betreibt. Die Website beschäftigt sich hauptsächlich mit Alltagsproblemen. „Ich habe vor Jahren aufgehört, über Parteipolitik und die Regierung zu schreiben. Es ist so ermüdend.“
Nicht nur Kholoud Alamiry, die sich jetzt vor allem für Umweltschutz und Frauenrechte engagiert, geht es so. Bei den letzten Wahlen im Irak 2021 gingen lediglich 40 Prozent der Wahlberechtigten wählen. Auf den Fernsehbildschirmen in Bagdads Kaffeehäusern läuft fast nur noch Fußball, eventuell noch eine andere Sportsendung, aber auf keinen Fall mehr Politik. „Keiner will das mehr sehen“, sagt Hassan. „Wir wollen nur noch in Ruhe gelassen werden und uns um unser eigenes Leben kümmern.“ Der größte Aufreger im Irak sei jetzt, wenn Barcelona gegen Real Madrid spielt. Bagdad sei praktisch in zwei Fan-Lager gespalten. Beim Clásico in Spanien – wenn die zwei großen Clubs gegeneinander spielen – ist die Polizei in Bagdad in Alarmbereitschaft.
Seit Saddam Hussein 1979 die Macht im Irak erobert hatte und Präsident wurde, hat das Land fast nur Krieg oder kriegsähnliche Zustände erlebt, mehr als 40 Jahre. Zuerst der achtjährige Krieg gegen den Iran unter Ajatollah Ali Chamenei, mit insgesamt einer Million Toten, dann der Einmarsch in Kuweit mit dem anschließenden Krieg des damaligen US-Präsidenten George Bush Senior, dann die Sanktionen, die die irakische Bevölkerung sehr hart trafen und dann der erneute US-Angriff von George W. Bush Junior im Jahr 2003. Danach wurde es erst richtig schlimm, als der Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten begann und die sunnitischen Terrororganisationen al-Qaida und „Islamischer Staat“ das Land verwüsteten. Erst seit Kurzem ist eine relative Ruhe eingekehrt.
Man kann jetzt wieder gefahrlos durch die Stadt laufen. Es gibt in der Innenstadt keine schiitischen oder sunnitischen Viertel mehr, die Leute haben keine Angst mehr voreinander. Seit im Oktober 2022 der erfahrene Pragmatiker Mohammed Shia al-Sudani als Chef einer schiitischen Mehrparteienkoalition die Regierung übernommen hat, gibt es erstmals seit Jahrzehnten wieder so etwas wie Bemühungen um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse, vor allem in Bagdad.
Bagdad liegt in Trümmern
Die einst stolze Metropole am Tigris hat es aber auch dringend nötig. Fast alles, was die Stadt einmal lebenswert gemacht hat, ist kaputt. Die Parks am Tigris, die früher von Teegärten und Fischrestaurants gesäumt waren, liegen in Trümmern. Einstige Luxushotels sind zu Ruinen mit rauchgeschwärzten Fenstern geworden. Die Altstadt um die Raschid-Straße nördlich vom Tahrir-Platz, einst ein orientalischer Traum unter Kolonnaden, besteht jetzt aus einem Gewusel von Händlern zwischen Ruinen. Doch es wird auch gebaut.
Ein winziger Teil der Altstadt um den ehemaligen osmanischen Gouverneurspalast ist restauriert worden, der Palast ist heute ein Kulturzentrum. Neben den Ruinen entstehen neue Geschäftshäuser, und auch einige neue Luxushotels werden gebaut.
Neben geradezu dystopischen Ruinenvierteln werden neue Wohnhäuser errichtet. Die sind auch dringend nötig, denn die Bevölkerungszahl von Bagdad hat sich seit der Zeit Saddam Husseins durch Kriegs- und Binnenflüchtlinge aus dem ganzen Land und einer hohen Geburtenrate von 3 auf 9 Millionen Einwohner verdreifacht. Fast alle kämpfen ums tägliche Überleben. Wer keinen Job beim Staat ergattern konnte, fährt Taxi, baut sich einen kleinen Teewagen, mit dem er durch die Straßen zieht oder putzt Schuhe. Doch es herrscht Frieden und vorsichtiger Optimismus. Es kommen sogar Iraker aus dem Ausland zurück, erzählt Kholoud Alamiry.
„Die Milizen haben das Land untereinander aufgeteilt und bekämpfen sich jetzt nicht mehr“, bestätigt auch Pater Dako. Dadurch gibt es auch für die Christen in Bagdad wieder Hoffnung. Eine Gruppe von Studenten, die aus Kerbala nach Bagdad gekommen ist, um sich den kleinen Teil restaurierter Altstadt und das dortige Kulturzentrum anzuschauen, ist noch wesentlich optimistischer. Sie studieren Englisch, erzählen sie, weil sie glauben, „dass bald wieder viele Touristen in unser Land kommen werden“. Kämpfen will hier jedenfalls niemand mehr. In Bagdad scheinen die chaotischen Szenen aus Damaskus weit weg. Doch ein friedliches Syrien würde auch dem Irak sehr helfen.
Mitarbeit: Lisa Schneider
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