Investigatives Netzwerk in Lateinamerika: Zusammen stärker
Durch Corona wird grenzübergreifender Journalismus noch wichtiger. In Lateinamerika wird dieser jetzt vermehrt erprobt – mit ersten Erfolgen.
„Gemeinsam Daten auswerten, sie grafisch aufbereiten und publizieren, das ist eine neue Herausforderung für Journalisten weltweit“, sagt Andrés Bermúdez Liévano vom lateinamerikanischen Rechercheverbund CLIP. „Das haben die Panama Papers gezeigt, genauso wie der Odebrecht-Skandal.“ Der kolumbianische Journalist koordiniert das CLIP, kurz für „Centro Latinoamericano de Periodismo de Investigación“, also ein Zentrum für investigative Recherche. Daran beteiligen sich mittlerweile Redaktionen aus 15 Ländern in der Region. Die Idee: Themen, die grenzübergreifend Wirkung entfalten, müssen auch so recherchiert werden.
Gegenwärtig ist Corona ein solches Thema, denn fünf der zehn Länder mit den höchsten Infektionszahlen sind laut Johns-Hopkins-Universität in Lateinamerika: Brasilien, Mexiko, Peru, Chile und Kolumbien. Unter dem Titel „Centinela Covid-19“ (deutsch: „Covid-19-Wächter“) recherchieren die Teams aus den verschiedenen Ländern gemeinsam, wie die jeweiligen Regierungen auf die Pandemie reagieren.
Mit dabei sind zum Beispiel die IDL-Reporteros aus Lima in Peru. Die sechsköpfige, investigativ arbeitende Redaktion hat Anfang Juli die erste gemeinsame Recherche von „Centinela Covid-19“ veröffentlicht: über die Beschaffung von Beatmungsgeräten und die extremen Unterschiede bei den Einkaufspreisen pro Gerät. „Bis zu 100.000 US-Dollar wurden pro Stück ausgegeben, die je nach Ausstattung normalerweise zwischen 28.000 und 35.000 US-Dollar kosten“, sagt Andrés Bermúdez Liévano.
Der Rechercheverbund CLIP wurde im Mai letzten Jahres in Costa Rica gegründet, soll aber in ganz Lateinamerika „Machtmissbrauch aufdecken und sichtbar für die Bürger*innen machen“. Dazu sollen journalistische Kräfte gebündelt, überstaatlich relevante Themen gemeinsam recherchiert und dann koordiniert veröffentlicht werden – mit jeweils nationalem Zuschnitt.
Gesundheit, Migration, Umwelt
Die Pandemie ist dabei nicht das einzige Thema, wo sich solch ein grenzübergreifendes Vorgehen anbietet. Weitere sind die Migration aus Afrika und Asien über Lateinamerika in Richtung USA sowie die Verteidigung von Umweltressourcen in der Region.
Die Mitglieder von „Centinela Covid-19“ haben teils jahrzehntelange Erfahrung mit der investigativen Recherche – auch angesichts teils korrupter oder pressefeindlicher Eliten. So hat die peruanische Redaktion IDL-Reporteros im Bestechungsskandal um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht in den letzten vier, fünf Jahren zahlreiche peruanische Politiker zu Fall gebracht. Der Aufbau von Datenbanken im Kontext von Korruption und Umweltzerstörung, Austausch bei Analyse und grafischer Veranschaulichung werde immer wichtiger, sagt IDL-Gründer Gustavo Gorriti – und lohne sich, wie die Recherche zum Kauf von Beatmungsgeräten zeige.
Oder nehmen wir Bolivien: Dort hat die Differenz zwischen den gezahlten Preisen für Beatmungsgeräte und dem marktüblichen Preis zur Entlassung des Gesundheitsministers geführt. Zu verdanken ist das unter anderem den Recherchen der Tageszeitung El Deber, Mitglied bei „Centinela Covid-19“. In Guatemala und auch in Peru müssen sich die Gesundheitsbehörden nach der Publikation unbequeme Nachfragen und den Vorwurf, chaotisch zu agieren, gefallen lassen.
„Centinela Covid-19“ ist nicht der einzige Rechercheverbund, der die meist chronisch unterfinanzierten Gesundheitssysteme Lateinamerikas in Zeiten der Pandemie ins Visier nimmt. Die gemeinnützige Redaktion „Salud con Lupa“ mit Sitz in Peru ging vor einem Jahr an den Start, um die Gesundheitssysteme im politischen und ökonomischen Kontext zu hinterfragen. Beide Netzwerke verbindet eine Arbeitsweise auf dem neuesten technischen Stand: Experten sorgen für Netzwerksicherheit, den Aufbau von Datenbanken und die Auswertung von großen Datenpaketen. Das dürfte der Berichterstattung qualitativ einen Schub geben.
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