Intergeschlechtlichkeit und Schule: „Inter* wird ausgeklammert“
Vielen Lehrkräften fehlt Wissen, um souverän mit intergeschlechtlichen Kindern umzugehen, sagt Expertin Ursula Rosen. Das müsse sich ändern.
taz: Frau Rosen, wenn es nach der UN-Kinderrechtskonvention geht, hat jedes Kind das Recht, ohne Diskriminierung aufzuwachsen – auch Inter*Kinder. Wie weit sind wir in Deutschland davon entfernt?
Ursula Rosen: Sehr weit. Die Ausgrenzung beginnt schon im Krankenhaus. „Herzlichen Glückwunsch, Sie haben ein Inter*Kind!“ könnte man nach der Geburt sagen. Stattdessen wird der Eindruck vermittelt, dass es ein großes medizinisches Problem gibt, auch wenn das Kind – wie die meisten Inter*Kinder – kerngesund ist. Sie haben ja lediglich eine Variante der Geschlechtsentwicklung. Im Kindergarten geht es weiter. Und in der Schule ist Ausgrenzung eigentlich überall – wo von Mädchen und Jungen die Rede ist, wo von „lieben Schülerinnen und Schülern“ gesprochen wird, wo nicht bedacht wird, dass Inter*Kinder eine andere Körperlichkeit haben als andere Kinder.
Wie gut sind Lehrer*innen auf intergeschlechtliche Schüler*innen vorbereitet?
ist Zweite Vorsitzende und Bildungsbeauftragte des Vereins Intergeschlechtliche Menschen e. V. Sie war Lehrerin für Biologie sowie Werte und Normen und hat das Kinderbuch „Jill ist anders“ geschrieben.
Für eine souveräne Reaktion, die den Kindern gerecht wird, fehlt vielen Lehrkräften schlicht das Wissen. Eine Drittklässlerin mit Hoden im Bauchraum hat mir neulich erzählt, wie ihre Lehrerin gesagt habe, dass Mädchen Eierstöcke und eine Vagina haben und Jungs einen Penis und Hoden. „Ich habe aber auch Hoden“, entgegnet sie, und die anderen Kinder lachen. „Das stimmt aber, meine Mama hat mir das erklärt“, sagt das Inter*Kind. „Da fragst du noch mal deine Mama, das hast du bestimmt falsch verstanden“, antwortet die Lehrerin. „Warum weiß die das nicht, die ist doch Lehrerin?“, hat das Kind mich dann gefragt.
Und warum weiß die Lehrerin das nicht?
Bislang ist Intergeschlechtlichkeit im Lehramtsstudium meist kein Thema. Als Erstes sollte es im Curriculum von Biolehrer*innen vorkommen. Aber in der Sexualkunde wird nur erklärt, wie weibliche und männliche Körper aussehen, Inter* wird ausgeklammert. In den Lehrplänen für Gesellschaftswissenschaften sucht man ebenfalls vergeblich.
Was ist mit dem pädagogischen Teil der Ausbildung?
Der Begriff Intergeschlechtliche Körper weisen Merkmale weiblich und männlich gelesener Geschlechtsorgane auf. Schätzungen zufolge sind zwischen 0,02 und 1,7 Prozent der Bevölkerung in Deutschland intergeschlechtlich. Offizielle Statistiken gibt es nicht.
Menschenrechtswidrig Die meisten intergeschlechtlichen Menschen sind gesund, dennoch waren geschlechtsangleichende Behandlungen bis vor wenigen Jahren in Deutschland die Regel, oft ohne umfassende Aufklärung und Einwilligung der Betroffenen. Die Vereinten Nationen verurteilen die Menschenrechtsverletzungen.
In den Psychologiemodulen der Lehrer*innenausbildung, wo es um Geschlechtsidentität geht, müsste Intergeschlechtlichkeit vorkommen, aber das ist meist nicht der Fall. Das muss sich ändern. Gleichzeitig erlebe ich bei Fortbildungen für Grundschullehrer*innen eine große Bereitschaft, sich Wissen über das Thema anzueignen. Weil sie sich darüber bewusst sind, dass die Kinder ihnen anvertraut sind, und zwar in ihrer Gesamtheit. Anders ist das bei Lehrkräften an weiterführenden Schulen, die fühlen sich häufig nur für die Stoffvermittlung zuständig.
Machen wir es ganz praktisch: Auf dem Anmeldebogen der Grundschule kreuzen Eltern als Geschlechtseintrag für ihr Kind „divers“ an. Was sollte die Lehrkraft dann tun?
Zuerst mal sollte sie wissen, was das bedeutet oder es in Erfahrung bringen, wenn sie es nicht weiß. Und dann sollte sie das Gespräch mit den Eltern suchen. Denn es stellen sich viele Fragen: Gibt es in der Schule eine All-Gender-Toilette? Wo soll das Kind sich für den Sportunterricht umziehen? Soll es auf der Klassenfahrt ins Jungen- oder ins Mädchenzimmer? Wenn das Kind körperliche Auffälligkeiten hat, also zum Beispiel eine große Klitoris, fällt das den anderen Kindern spätestens auf, wenn nach dem Sportunterricht alle ohne Unterhose duschen sollen. Als Lehrerin muss ich dann wissen: Was will das Kind? Wünscht das Kind, dass ich in der ersten Stunde etwas zu Intergeschlechtlichkeit sage? Manche Kinder wollen genau das.
Und wenn die Kinder nicht möchten, dass ihre Intergeschlechtlichkeit zum Thema gemacht wird – wie können Lehrer*innen dann sensibel mit möglicherweise ausgrenzenden Situationen umgehen?
Die Lehrkräfte müssen immer deutlich machen, dass alle Kinder gleichwertig sind. Bei Fragen, die das Geschlecht betreffen, sollte man das Kind fragen, wie es eingeordnet werden will. Also zum Beispiel auf Klassenfahrten: Auf welches Zimmer möchtest du denn? Wo fühlst du dich wohl? Bei trans Kindern ist man da weiter – da ist es gerade im Grundschulbereich gar kein Problem, dass etwa trans Mädchen, die ja einen männlich gelesenen Körper haben, mit auf ein Mädchenzimmer gehen.
In der Diskriminierungsprävention werden die Situationen von Inter*- und trans Kindern häufig zusammen abgehandelt. Wie ist das für Inter*Kinder?
Die Schwierigkeit daran ist, dass Inter*Kinder in der Regel eine andere Problematik haben als trans Kinder. Trans Kinder haben einen Körper, der eindeutig aussieht, aber ihre Psyche sagt das Gegenteil. Inter*Kinder haben einen Körper, der in den binären gesellschaftlichen Normen nicht vorkommt. Viele fühlen sich deshalb einsam, so, als sollte es sie gar nicht geben. Inter*Kinder müssen deshalb die Information bekommen, dass ihr Körper völlig in Ordnung ist, wie er ist. Das ist ein weiterer Unterschied zu trans*: Während da Operationen erst vorgenommen werden sollen, wenn sie erwachsen sind, haben Ärzt*innen bei Inter*Kindern über Jahrzehnte schon sehr früh zu sogenannten geschlechtsangleichenden Operationen geraten.
Bis in die 2000er waren diese kosmetischen Operationen an Babys und Kleinkindern üblich. Die hat das im März vom Bundestag verabschiedete Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung nun verboten. Ein Meilenstein für intergeschlechtliches Leben in Deutschland?
Auf jeden Fall. Gut ist, dass es überhaupt ein Gesetz gibt, das die Einwilligung der Betroffenen erforderlich macht. Schwierig finden wir als Verein, dass vor Operationen eine Peerberatung, also eine Beratung durch andere Betroffene, nicht verpflichtend ist. Das wäre aber wichtig, um den Eltern ihre Ängste zu nehmen. Denn die Operationen lassen die Familien ja vor allem zur „Mobbingprävention“ durchführen. Schwierig finden wir auch, dass die Einwilligungsfähigkeit des Kindes nicht definiert wurde und es kein Zentralregister über Behandlungen intergeschlechtlicher Kinder gibt. Deswegen fehlen uns belastbare Zahlen. Außerdem greift das Gesetz nur, wenn eine Variante der Geschlechtsentwicklung „diagnostiziert“ wurde. Und, ganz wichtig: Wir brauchen mehr Mittel für spezialisierte Beratungsstellen und die Weiterbildung der vorhandenen Beratungsstellen. Es gibt viel zu wenig spezialisierte Berater*innen. So lässt das Gesetz die Familien mit ihren Sorgen allein.
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